Viktor Ivanovich M. – Freitagsbrief Nr. 214

Gebiet Mykolajiv, Ukraine
Juli 2022

Lieber Gottfried Eberle und Sibylle Suchan-Floß!

Viktor Iwanowitsch M., ein minderjähriger Häftling, schreibt Ihnen. Am 1. Juli 2022 habe ich Medikamente von der Gesellschaft für gegenseitige Verständigung und Toleranz [unsere Partner in der Ukraine, KONKTAKTE-KOHTAKTbI]  erhalten, die ich sehr nötig brauche. Herzlichen Dank dafür. Jetzt haben wir einen Krieg, einen sehr grausamen, Menschen sterben umsonst, darunter so viele Kinder, Frauen und alte Menschen. Und dies ist mein zweiter Krieg.

Meine Mutter und ich wurden 1943 nach Deutschland deportiert. Wir waren in einem Lager in Österreich, irgendwo in der Nähe von Wien und Hellabrunn.

Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, wie ich mich und meine Mutter gerettet habe. Das war im Jahr 1945, im April oder Mai. Die Amerikaner bombardierten massiert und sehr heftig militärische und industrielle Einrichtungen. Wir aus dem Lager versteckten uns in Luftschutzkellern. Einmal wollte ich nicht mit meiner Mutter dorthin gehen. Dort war es feucht, kalt und dunkel. Irgendwie hat meine Mutter auch auf mich gehört. Wir versteckten uns im Lager unter den Etagenbetten. Es gab einen sehr schweren Angriff, die Amerikaner haben bombardiert. Der ganze Himmel war voller Bomber. Eine ganze Reihe von Bomben schlug im Bunker ein. Alle, die dort waren, meine Mutter sagte, mehr als 3.000 Menschen, wurden getötet. Mehrere Tage lang floss das Blut in Strömen unter den Trümmern hervor, und es gab ein schreckliches Stöhnen. Niemand war da, sie zu retten. Meine Mutter erzählte mir, dass, um das Leiden zu verkürzen, noch ein paar Bomben aus den Flugzeugen abgeworfen wurden, und dann wurde es still.

Und der zweite Fall ist ein guter Fall. Es war schon nach dem Sieg. Ich gehe an einem Konvoi amerikanischer Autos entlang. Im Auto sind Neger, so Schwarze. Das machte mich neugierig. Ich stehe und schaue sie an. Ein Neger winkte mich mit dem Finger heran, ich ging hin und er gab mir ein Schokoladenbonbon. Ich aß die Schokolade und ging zu ihnen zurück. Sie fingen alle an zu lachen. Ein Neger nahm mir die Schiffchenmütze vom Kopf und schüttete mir eine Ladung Zucker hinein. Dann bin ich ins Lager gelaufen, habe den Zucker ausgeschüttet und bin wieder zurückgerannt. Und sie schütteten noch ein paar Mal Zucker hinein und lachten.

Es ist jetzt sehr schwierig bei uns. Es herrscht Krieg, und er ist grausam. Unser Leben ist jetzt sehr schwierig. Die humanitäre Nahrungsmittel-Hilfe rettet uns. Meine Tochter und ihre Enkelkinder sind nach Deutschland gegangen, wir wissen noch nicht, wohin sie geraten werden. Meine Frau und ich haben beschlossen, nirgendwo hinzugehen. Ich werde 82 und meine Frau ist 73. Das Schlimme ist, dass wir jetzt beide Zahnprobleme haben, wir müssen unsere Zähne behandeln lassen, aber wir haben nicht die Mittel dafür. Alles ist auf einmal sehr teuer geworden, und meine Frau und ich können es uns nicht leisten. Vielleicht können Sie uns helfen, wir wären Ihnen sehr dankbar. Wir können die Nummer des Bankkontos angeben.

Auf Wiedersehen und Gott gebe Ihnen Gesundheit.

Hochachtungsvoll, V.I. M.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt und Igor Makarov