Iwan Artemjevitsch S. – Freitagsbrief Nr. 215

Gebiet Mogiljov, Belarus
13.07.2022

Guten Tag Herr Blankenhorn,

ich habe mit Verständnis Ihren Brief gelesen, in dem Sie sehr klar und deutlich die Frage des gegenseitigen Verständnisses zwischen den Völkern ansprechen. Ich danke Ihnen für die geleistete Hilfe, die sehr gelegen kam. Ich bin kein reicher Mann, sondern ein pensionierter Maschinenbauingenieur, aber wenn man schon über 80 ist, muss man viel für die Erhaltung der Gesundheit ausgeben.

Ich denke oft an den Krieg, als Belarus unter dem Joch des Faschismus war. Im Herbst 1943 befanden sich die deutschen Faschisten durch den Druck der Roten Armee auf dem Rückzug. Sie brannten Dörfer nieder, verschleppten die arbeitsfähige Bevölkerung nach Deutschland, plünderten und töteten. Ein solches Schicksal ereilte mein Dorf Tchigrinowka im Gebiet Mogiljow.

An diesem Herbsttag begannen die Bestrafer das Dorf zu umzingeln, Schüsse waren zu hören. „Lauft weg, die Deutschen kommen“, riefen die Frauen, als sie die Bestrafer auf das Dorf zukommen hörten und sahen. Alle Dorfbewohner, von jung bis alt, verließen ihre Hütten und rannten los in den Wald, der einen Kilometer vom Dorf entfernt war. Ich war damals kaum sechs Jahre alt, hielt mich an der Hand meiner Mutter fest und rannte und fiel mit allen Nachbarn. Die Menschen schrien, weinten, stürzten, halfen sich gegenseitig auf und rannten, so schnell sie konnten, in den Wald. Die Bestrafer folgten uns nicht in den Wald, sondern blieben im Dorf. Sie töteten das Vieh und begannen dann, die Hütten niederzubrennen. Die Hütten waren aus Holz und mit Stroh gedeckt und brannten schnell nieder. Und wir, um die fünfzig Einwohner mit Kindern, versteckten uns im Wald. Zu essen gab es nichts, wir aßen, was wir in der Eile gegriffen hatten. Wir schliefen unter einer Decke von Tannennadeln. Wir hatten Angst, Feuer zu machen, es regnete und es war kalt. Sowjetische Geheimdienstler entdeckten uns dort und forderten uns auf, ihnen im Gänsemarsch ins Dorf zu folgen, da viele Straßen von den Faschisten vermint waren. Direkt neben mir trat unser Nachbar auf eine Mine; er wurde in die Luft gesprengt und starb.

Als wir das Dorf erreichten, erkannten wir den Ort nicht wieder. Verkohlte Schornsteine ragten hoch; alles war verbrannt. In der Luft hingen Rauch und Ruß. Die Frauen weinten und verfluchten die Nazis. Wir begannen Wohnhöhlen zu graben, um irgendwie am Leben zu bleiben. Die Soldaten der Roten Armee, die uns befreit hatten, halfen uns. Das Leben war schwer, es gab nicht genug zu essen, wir zogen durch die Dörfer und bettelten.

Der Winter 1943 – 1944 begann. Wir hausten in den Wohnhöhlen, die bis zu zwei Meter tief ausgegraben und mit Torf und Erde bedeckt waren. Wir lagen an einer Linie nahe der Front, denn die deutschen Invasoren hatten beim Rückzug ihre Stellungen am Fluss Pronja befestigt, einem Nebenfluss der Sozha, 7 km von uns entfernt. Die Nazi-Artillerie fing an, regelmäßig und gnadenlos zu feuern. Beim Beschuss rannten wir alle, meine Mutter, mein Vater, ich, zwei Schwestern und Nachbarn, in den Schutzraum – einen Unterstand im Garten in der Nähe der Wohnhöhle. Er war mit Baumstämmen und Erde bedeckt. Als eine Granate daneben explodierte und Sand auf unsere Köpfe rieselte, beteten die Frauen. Wir hofften, dass die Granate dieses Mal nicht den Unterstand treffen würde.

So haben wir bis zum Beginn der Bagration-Offensive [Juni 1944 d. Übers.] gelebt. Nach der Befreiung begannen die Bauern des Dorfes mit dem Bau von Hütten. Es war schwer, es gab keine Pferde, und die Menschen mussten die Baumstämme selbst aus den Wäldern schleppen. Erst nach 5 Jahren bauten die Bauern Hütten für sich selbst, ein friedliches Leben begann.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt und Igor Makarov