Kherson, Ukraine
September 2020
Für meine Eltern:
Svetlana Markovna Gomberg
Meine schwierigen Erinnerungen für künftige Generationen, damit so etwas nie wieder passiert.
Ich bin Jüdin durch meinen Vater – Mark Abramovich Gomberg. Nach dem Studium wurde mein Vater als Ermittler abgeordnet nach Znamenka, Region Kirovograd, wo ich geboren wurde. Als der Krieg begann, war ich 2 Jahre und 6 Monate alt. Mein Vater wurde am ersten Tag des Krieges eingezogen, und wir hörten nichts mehr von ihm. Im September 1941 gab meine Mutter ihre Wohnung in Znamenka und ihr gesamtes Hab und Gut auf und beschloss, sich auf den Weg nach Tsyurupinsk (Gebiet Kherson, damals Nikolajev) zu machen, in ihre Heimat, wo ihre Eltern lebten. Mit irgendeinem Zug, der noch fuhr, gelangten wir nach Kherson, und bis Tsyurupinsk schlug sich meine Mutter irgendwie durch mit mir auf dem Arm, – über Felder und durch Schilf, es war schon gefährlich. Meine Großmutter freute sich, als wir ankamen: „Es ist gut, dass wir alle zusammen sind“. Und Großvater kam mit einem zerschossenen Bein aus Murmansk zurück: Am ersten Tag des Krieges bombardierten und versenkten die Deutschen das Fischerboot, auf dem Großvater war. Niemand verstand, was los war, warum das passierte. Es war der Beginn des Krieges! Mein Großvater konnte sich retten und machte sich sofort auf den Heimweg nach Tsyurupinsk. Aber da war der Krieg schon im Gange. Die Freude des Wiedersehens währte nicht lange.
Meine Großmutter erzählte, dass unser Leben zur Hölle wurde. Die Deutschen waren noch auf dem Vormarsch auf Odessa, als meine Großmutter hörte, dass die Deutschen die Juden grausam ausrotten würden. Nicht jeder glaubte damals daran. Meine Großmutter zerriss alle Familiendokumente und verbrannte sie. Sie beschlossen, mich, die Tochter eines Juden, in einer Grube zu verstecken. Es war nicht einfach eine Grube, sondern ein Keller in einem Schuppen. Seine Wände waren sogar irgendwie befestigt und verziert, dort wurde Schilf aufbewahrt. Meine Großmutter bastelte mir eine Puppe aus Lumpen und mir wurde strengstens gesagt, dass ich nie jemanden rufen dürfe, sie würden selbst zu mir kommen. Und wenn sie zu mir herunterkamen, weinten sie immer, weil ich als dreijähriges Kind zusammengekauert dasaß, die Puppe umarmte und ihr zuflüsterte, dass wir still sein und uns verstecken müssten. Den Erwachsenen brach es das Herz.
Unsere Armee musste Tsyurupinsk in aller Eile verlassen, alles wurde aufgegeben, und sie konnten nicht einmal den Lastkahn mit Konserven aus unserer örtlichen Fabrik für die Armee mitnehmen. Deshalb ließen die Soldaten der Bevölkerung sagen: Nehmt, was ihr könnt. Da mein Großvater am Bein verwundet war und nichts vom Kahn zum Ufer tragen konnte, bewachte er die Schubkarre, und unser Nachbar lud auf. Man kann sagen, dass die Familie dank dieser Lebensmittel nicht gehungert hat, wie es vielleicht andere getan haben. Die Lebensmittel wurden unter dem Zaun zwischen den Häusern vergraben. Bei denen, die einfach auf dem Grundstück etwas vergraben oder versteckt hatten, fanden es die Deutschen beim Stochern mit Bajonetten und nahmen es mit.
Die ganze Geschichte gebe ich nach den Worten meiner Großmutter wieder, denn ich war noch ein kleines Kind.
Die Deutschen verjagten unsere Familie aus dem Haus in den Behelfsbau, in dessen Keller sich mein Versteck befand. Sie selbst ließen sich in unserem hellen Bauernhaus nieder. Meine Großmutter, Anna Pawlowna, kochte für sie, aber nicht im Haus, sondern in unserer „Wohnung“. Sie zwangen sie zu allem und drohten mit: „piff-paff“, wenn sie ich weigern würde. Und wenn ihnen etwas nicht passte, sagten sie sofort „piff-paff“. Wir waren immer ihre Zielscheibe. Meine Mutter musste Schützengräben ausheben. Da mein Großvater verwundet war und sein Bein eiterte, hatten die Deutschen nichts gegen ihn. Ihr Arzt behandelte sogar das Bein meines Großvaters – er reinigte die Wunde und gab ihm Salbe. Niemand wusste von mir.
Die Eltern meines Vaters, Juden, wurden sofort erschossen. Keiner wusste, wann, wie und wo. Sie stammten ebenfalls aus Tsyurupinsk.
Manchmal, wenn die Deutschen unterwegs waren, ließ mich meine Großmutter aus der Grube, um oben im Schuppen zu bleiben, in der Nähe der Grube. Aber nur nachts, nicht tagsüber. Aber sobald ich das Zuschlagen des Tores hörte, rannte ich in den Keller und sagte: „Ich muss mich verstecken“. Die Deutschen tauchten auch in dem Behelfsbau auf, in dem meine Großmutter für sie kochte, hoben den Deckel des Topfes an, und wenn sich herausstellte, dass es unser Essen war und nicht ihres, lachten sie lange, aber was war so lustig am Elend der einfachen Leute? Sie spuckten schon mal in den Topf und gingen weg. Großvater spuckte ihnen hinterher, Großmutter schüttete diese Suppe aus, die niemand mehr gegessen hätte.
Als kleines Kind habe ich meiner Großmutter die Frage gestellt: Warum kann ich es nicht wie Yurka haben? Er ist nicht mit mir in die feuchte, dunkle Grube hinabgestiegen. Yura war mein Cousin, der Sohn von Tante Vera, etwa so alt wie ich. Meine Großeltern hatten drei Kinder und zwei Enkelkinder (damals): Yura und ich. Sie wusste nicht, was sie mir antworten sollte.
Der Ortspolizist [Kollaborateuer d.Übers.] aus unserer Straße fragte: „Wo ist Euer Judenmädchen?“ Alle redeten sich heraus und zuckten mit den Schultern: „Wovon sprichst du?“ Aber natürlich hat er es erraten. Schon vor dem Rückzug der Deutschen kam er zu meiner Großmutter mit den Worten: „Alle Jidn hat man umgebracht, und Mark ist weg, gib mir seine Sachen!“ Mein Vater hatte gute Kleidung. Großmutter gab sie ihm nicht, und er machte eine Anzeige bei der Polizei, dass mein Vater Jude und Kommunist sei. Nach Aussage meiner Großmutter sah meine Mutter später seine Handschrift auf der Anzeige. Die Deutschen machten eine Suchaktion. Meine Mutter war nicht zu Hause. Sie nahmen meine Großmutter und mich mit. Sie steckten mich und meine Großmutter in die Todeszelle. Meine Großmutter wollte sich nicht an das Grauen erinnern, an das dauernde Stöhnten und Weinen der Frauen und der Kinder. Ich klammerte mich an meine Großmutter und bettelte, dass wir so schnell wie möglich nach Hause gehen sollten.
Mama hat uns wie durch ein Wunder gerettet. Großmutter wollte nie darüber sprechen, also kann ich nicht genau wissen, wie es war. Als meine Mutter von ihrer Zwangsarbeit zurückkam (sie band sich immer ihr Kopftuch über die Wangen bis zu den Augen, um ihre Schönheit zu verbergen) und ihren vor Kummer völlig verstörten Vater, meinen Großvater, sah, verstand sie, was passiert war, riss sie sich das Kopftuch herunter und rannte, so schnell sie konnte, zur Polizeiwache. Meine Mutter hatte üppiges blondes Haar, einen lockigen, üppigen Schopf, blaue Augen und regelmäßige Gesichtszüge. Eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit! Die Deutschen gafften und erstarrten, und einer zog eine Erklärung zurück und sagte: (was der Deutsche sagte, blieb auf der Originalseite und passte nicht auf die Kopie, das Original ging auf dem Postweg verloren)…
Sie ließen mich mit meiner Großmutter und einen anderen Jungen mit einem der Erwachsenen hinaus. Später erfuhren wir, dass auch er überlebt hat. Alle anderen wurden ermordet.
Die Deutschen traten sehr schnell den Rückzug an. Sie rannten und ertranken im Dnjepr – das Wasser war rosa mit Blut, wie Limonade. Als unsere Truppen einmarschierten, wurde der Ortspolizist sofort gehängt. Und die Tochter dieses Schurken besuchte unsere Schule. Wegen der Sünden ihres Vaters war es nicht leicht für sie. Es gab keine Racheakte, aber der Kummer konnte nicht aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht werden, und diese Einstellung war zu spüren. Ich konnte mich früher an ihren Namen erinnern, aber jetzt weiß ich ihn nicht mehr.
Unsere Leiden waren damit noch nicht zu Ende. Meine Mutter starb im November 1945 an einer Bauchfellentzündung. Sie brauchte Medikamente, die es nicht gab. So erfuhr meine Mutter nie, dass mein Vater gefallen war. Die Meldung, dass er „am 25. Mai 1942 im Einsatz für das Vaterland vermisst“ wurde, kam nach dem Sieg. Nach dem Tod meines Vaters erhielt ich eine staatliche Hilfe, und für unsere arme Familie war das nicht wenig Geld, das ausschließlich für mich ausgegeben wurde.
Nach dem Tod ihrer Tochter wollte sich meine Großmutter umbringen. Ihr fehlte die Kraft, noch mehr seelische Erschütterungen zu ertragen. Ich war fast 7 Jahre alt, und der Gedanke, die Tochter ihrer Nadya (meiner Mutter) aufzuziehen, hielt sie von diesem tragischen Schritt ab.
Ich wuchs in der Liebe und Fürsorge meiner Großeltern auf. Sie schützten mich wie den kostbarsten Diamanten. Niemand konnte mich verletzen, ihr Schutz war so stark. Das war nun eine glückliche Kindheit! Die sonnigsten Erinnerungen. Ich würde wieder dorthin zurückkehren.
(Eine kleine Abschweifung: Wenn ich zum Beispiel auf dem Spielplatz tanzte, stand meine Großmutter heimlich am Zaun und beobachtete alles. Die Jungs wollten sich an mich heranmachen, aber sie trauten sich nicht. Ich hatte auch einen Beschützer in der Schule – Edik, eine Klasse höher als ich, vor dem alle Respekt hatten, und der mich behütete.)
In jenen Nachkriegsjahren war meine Großmutter nicht überzeugt, dass Menschheit die Lehren aus der Vergangenheit gezogen hatte und nicht zulassen würde, dass sich so etwas wiederholt. Sie wurde alt und verstand, dass sie mich beim nächsten Mal nicht mehr retten könnte.
Der jüdische Nachname Gomberg brachte mir Aggressionen, Spott und falsche Anschuldigungen der Menschen in meiner Umgebung ein (vor allem bei den Kindern in der Schule), und meine Großmutter war gezwungen, mich zu adoptieren und damit meinen Nachnamen von Gomberg in Burlakova zu ändern. So wurde mein Vatersname von dem meines Vaters auf den meines Großvaters, Roman, geändert. Alles, was bleibt, ist der Name, den mir mein Vater gab: „Sie ist einfach Swetotschka“.
Ich trauere und weine um meine jungen Eltern, die jung gestorben sind, sich nicht des Lebens und ihrer Tochter freuen konnten. Papa ließ meine schöne Mutter nicht einen Moment aus den Augen, und wenn sie irgendwohin ging, musste sie einen Zettel schreiben, wo sie sie finden konnte. Sie fragte: Warum? – Auf der ganzen Welt würde ich doch niemanden finden wie dich. Wenn sie am Leben wären, wäre alles anders. Natürlich hätten sie mir eine Ausbildung ermöglicht, und wir hätten gut und nicht schlecht gelebt. Aber meine Großeltern konnten das nicht, also musste ich nach der 10. Klasse auf eine Berufsschule gehen und eine Ausbildung zum Kältetechniker machen. Ich ging direkt zur Arbeit im Lager für Speiseöl des Ammoniakwerks. Können Sie sich das vorstellen? – Ein dünnes Mädchen, Beine wie Streichhölzer, mit einem prächtigen Schopf weißblonder Haare, blauen Augen (ein Scherz) und einer großen Nase! Oma bat mich scherzhaft, mich nicht seitwärts neben die Leute zu stellen. Unser Direktor, David Fjodorowitsch, bemerkte meinen Fleiß, meinen Eifer, mein Verantwortungsbewusstsein und nahm mich sozusagen in seine Obhut. Er gab mir den nächsten großen Schub in meinem Leben.
Vielleicht werde ich hier schließen. Ich behalte all die Menschen, die in meinem Leben eine gute Rolle gespielt haben, in guter Erinnerung. Ich habe den schrecklichen Fleischwolf überlebt, ich wurde gerettet, ich lebe und ich will weiterleben. Ich habe einen wunderbaren Sohn und einen Enkel, denen ich mein Leben gewidmet habe, so wie es meine Großeltern einst für mich getan haben.
Leute, seid alle glücklich! Ich danke Ihnen.
Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarow