Sinaida Aleksejewna Je.
Belarus, Gebiet Mogiljow
März 2020
Sehr geehrter Herr Gottfried Eberle,
ich verneige mich tief vor Ihnen und all Ihren Kollegen, die daran arbeiten, aus winzigen Erinnerungsfetzen Informationen über die Menschen zu sammeln, die als kleine Kinder alle Schrecken des Krieges gesehen haben: Kälte, Hunger, Krankheiten, zerstörte Häuser. All das blieb in ihrem Gedächtnis und schmerzt im Herzen bis zum heutigen Tag.
Ich schreibe Ihnen im Namen meiner Mutter, Zinaida Alekseevna Je.. Sie ist 87 Jahre alt. Sie sieht schlecht und kann Ihnen deshalb nicht selbst schreiben und sich für die materielle Hilfe bedanken, die sie von Ihrer Stiftung erhalten hat. Ihnen allen sei Dank für Ihre Hilfe.
Als der Krieg begann, war Mama 9 Jahre alt. Ihre Familie bestand aus ihren Eltern und noch 4 Kindern. Mama war das dritte Kind, das Jüngste war gerade ein Jahr alt. Sie wohnten im Dorf Pil’niki im Mogilyovsker Gebiet, nicht weit vom Dorf Borki, 7 – 8 Kilometer entfernt. Mama erinnert sich nicht gern an ihre Kindheit in der Zeit der Besatzung. Sie weint, und ich stelle mir voller Entsetzen vor, wie sie das alles überstanden haben und wie ihre Familie unbeschadet durchgekommen ist.
Mama erzählt, dass unterschiedliche Deutsche in ihr Haus kamen. Die einen fragten: „Eier, Milch.“ Und Mamas Mutter, also die Großmutter, sagte: „Nichts, Pan. Ich habe Kinder.“ Und die Deutschen nahmen ihr nichts weg. Wenn sie auf Motorrädern die Straße entlangfuhren, staunten die Kinder über dieses seltsame Verkehrsmittel, denn sie hatten so etwas bis dahin nie gesehen, und die Deutschen warfen ihnen Bonbons zu. Den Großvater forderten sie auf, in die Polizei einzutreten, aber er versteckte sich so gut wie möglich vor ihnen. In ihrem Dorf ging fast niemand zur Polizei.
Als Borki brannte, fuhr der Großvater gerade mit dem Fuhrwerk zur Mühle ins Nachbardorf nicht weit von Borki, um Getreide zu mahlen. Die Großmutter sah den Widerschein eines gewaltigen Feuers am Himmel, und die Nachbarn erhoben ein Geschrei, dass Borki brennt. Die Großmutter wusste nicht wohin mit sich vor lauter Angst, dass der Großvater umkommen könnte. Aber er war auf dem Weg umgekehrt und kam rechtzeitig zurück. Und alle Dorfbewohner, ebenso wie auch die Bewohner des Nachbardorfs, flohen in den Wald in die Sümpfe. Jeder nahm ein Bündel nur mit dem Allernotwendigsten mit. Die restliche Kleidung und Dokumente stopften sie in ein Fass und vergruben es in der Erde. Sie schlichen sich durch die Sümpfe in die Tiefe des Waldes. Meine Mutter und ihre Schwester liefen als letzte und gerieten in einen Morast. Der Großvater bemerkte ihre Abwesenheit noch rechtzeitig, rannte zurück – da steckten sie schon bis zum Hals im Morast. Er rettete sie.
Sie lebten zwei Jahre lang im Moor im Wald. Sie bauten eine Erdhöhle und aßen, was sie fanden: verfaulte Kartoffeln, grünes Gras, Beeren, Pilze. Wie sie überlebten, weiß nur Gott. Mama sagt, dass noch lange Zeit der furchtbare Gestank verbrannter menschlicher Körper, Asche in der Luft hing.
1944 befreite die Rote Armee den Kirov-Bezirk von den Deutschen, und Großvater ging an die Front. Die Familie kehrte in ihr Dorf zurück, von dem nichts mehr übrig war. Die Deutschen hatten alles verbrannt, auch die Sachen, die sie im Fass vergraben hatten. Und die ganze Familie hatte praktisch weder Kleidung noch Schuhe.
Der Großvater kämpfte an der Front, wurde verwundet, blieb aber am Leben und kam bis nach Berlin. Er wurde mit Orden und Medaillen ausgezeichnet. Als einer von wenigen kehrte er aus dem Krieg zurück, war am Leben geblieben und heil. Viele kamen aus dem Krieg nicht zurück.
Als der Großvater an der Front war, wuchsen die älteren Kinder, die Söhne, heran, halfen beim Bau der Erdhöhle, und so wurde es für die Großmutter doch ein bisschen leichter. Die Kinder wurden alle schnell erwachsen. Zu essen gab es nichts und auch keine warmen Sachen.
Der Großvater kehrte von der Front zurück, und sein jüngster Sohn erkannte ihn nicht. Er fürchtete sich, dachte, es sei ein Onkel von der Polizei gekommen. Er war kaum zu beruhigen damit, dass man ihm sagte, das sei sein Papa. Der Großvater flocht den Kindern Bastschuhe. Diese Bastschuhe hielten nicht lange, sie gingen kaputt von der Feuchtigkeit. In die Bastschuhe wurden noch Fußlappen gelegt; die wurden auch durch und durch nass. Und Großvater schaffte es nicht, allen 5 Kindern Schuhe zu flechten, deshalb gingen viele barfuß.
Als Mama all das uns, ihren Kindern, erzählte, war es für mich schrecklich, mir dieses Bild vorzustellen. Wir als Generation der 60- 70-Jährigen sahen ein anderes – stabiles, gutes Leben. Wir hatten alles: Kleidung, Schuhe, gutes Essen, kostenlose Bildung, Bücher und Lehrbücher für alle. Aber Mama ging nur 4 Jahre zur Schule und arbeitete dann in der Kolchose. Sie hatte keine Möglichkeit, etwas zu lernen, es gab weder Lehrbücher noch Schreibwerkzeug; sie schrieb mit irgendeiner Feder auf abgerissenem Zeitungspapier. Von Mamas Familie ist nur sie, die Mittlere, noch am Leben. Ihre 2 jüngeren und 2 älteren Geschwister sind schon gestorben, aber Mama lebt noch bis heute.
Am 15. Juni dieses Jahres wird in Borki eine Gedenkstätte für die Opfer des verbrannten Dorfes eingeweiht. Dort kamen ungefähr 2200 Menschen um, darunter fielen den Flammen zwei Cousins meiner Mama und die Frau ihres Onkels zum Opfer. Der Sohn ihrer Großmutter väterlicherseits kam nicht aus dem Krieg zurück, und ihre Tochter wurde von den Deutschen erschossen. Das Leid der Mutter, die alle verlor, ihre Kinder und ihre Enkel, ist unbeschreiblich.
Wir möchten allen wünschen, dass niemand solche entsetzlichen Dinge sehen muss, die das Schicksal unserer Eltern und Großeltern waren. Möge immer Frieden auf der Erde sein und Freude darüber, dass wir unter einem friedlichen Himmel leben, arbeiten und Kinder großziehen. Möge an diesem Himmel immer eine helle Sonne scheinen.
Mit Hochachtung Ihnen gegenüber – meine Mama Zinaida Alekseevna, ihre Tochter Zoya und meine Schwester Elena.
Meine Mutter hat nichts dagegen, dass ihr Brief in Ihrem Land veröffentlicht wird. Wenn Sie ihn drucken wollen, ist es gut, dass die Menschen erfahren, wie notwendig es ist, das zu schätzen, was wir jetzt haben. Das ist Frieden auf der Erde, unser Land, in dem wir und unsere Verwandten und unsere Nächsten leben, unsere Familie.
Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie Gesundheit und Ihrer Stiftung jegliche Unterstützung.
Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt