Viktor Grigor’evich Ch. – Freitagsbrief Nr. 212

Gebiet Mogiljow, Belarus
26.01.2022

Eine Anmerkung: Viele ehemalige Bürger der Sowjetunion bezeichnen alle Lager des nationalsozialistischen Deutschlands als Konzentrationslager, auch wenn sie es formal nicht waren.

Liebe Vereinsmitglieder,

Sehr geehrter Herr Vereinsvorsitzender!

Ich, Viktor Grigor‘evich Ch., habe 300 Euro und Ihren Brief als Überlebender eines niedergebrannten Dorfes über die „Stiftung für gegenseitige Verständigung“ in Minsk erhalten. Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl.

Ich schreibe Ihnen meine Erinnerungen an den Krieg.

Ich war zweieinhalb Jahre alt, als der Krieg begann, denn ich wurde im Januar 1939 geboren. Daher weiß ich aus den Erzählungen meiner Verwandten, Freunde und Bekannten um die Schrecken des Krieges, die Grausamkeiten und Verbrechen der Nazis, insbesondere der Gestapo, in meinem Heimatland Belarus.

Meine ältere Schwester Nadezhda, die 15 Jahre alt war, wurde in ein Konzentrationslager in Deutschland gebracht, aber sie blieb nicht lange dort; sie überlebte, weil eine Bauernfamilie sie zum Arbeiten aufnahm und gut behandelte. Nach dem Krieg kehrte meine Schwester nach Hause zurück. Mit meiner zweiten Schwester Lena, meiner Mutter und meinem kranken Vater lebten wir in einem Dorf, als die deutschen Soldaten einmarschierten. Ich war zweieinhalb Jahre alt, meine Schwester war sechs.

Ich selbst erinnere mich an mehrere Ereignisse. Die Deutschen kamen ins Haus: Als sie meinen Vater dort liegen sahen, befahlen sie ihm aufzustehen, und einer von ihnen richtete seine Maschinenpistole auf meinen Vater, um ihn zu erschießen. Ich war erschrocken, weinte und rannte zu meinem Vater. Mein Vater nahm mich in die Arme, drückte mich an seine Brust. Der deutsche Soldat schaute uns an, legte seine Maschinenpistole weg und die Soldaten gingen. Bald darauf starb mein Vater, und wir kleinen Kinder blieben mit meiner Mutter zurück. Da die deutschen Soldaten uns alle Lebensmittel weggenommen hatten, waren wir sehr hungrig. Wir gingen mit meiner Schwester auf die Felder, auf denen im Sommer Kartoffeln wuchsen, und sammelten die gefrorenen Kartoffeln, Mutter backte Fladenbrot, und wir aßen diese schwarzen Fladen.

Vor dem Krieg hatten wir ein sehr schönes großes Haus, das mein Vater gebaut hatte, aber die deutschen Offiziere nahmen es sich als Hauptquartier, und wir wurden in die Scheune gejagt, wo es kalt war, und uns war sehr kalt. Aber das war noch nicht das Ende unserer Qualen. Als die Sowjets vorrückten, versammelten die deutschen Besatzer alle Dorfbewohner in einer großen Scheune und schlossen sie ab, damit niemand entkommen konnte. Die Kinder schrien und weinten, jeder verstand, dass wir verbrannt werden sollten, aber plötzlich fuhr ein deutscher Offizier vor, sagte etwas, und wir wurden lebendig freigelassen. Wir wissen nicht, was das für eine Entscheidung war, aber wir sind dankbar, dass wir nicht verbrannt wurden.

Sie brannten das gesamte Dorf ab, und die Bewohner wurden nach Mogiljow in ein Durchgangslager und in ein Konzentrationslager geschickt. Meine Schwester und ich erkrankten dort an Typhus, aber Gott war gnädig und meine Schwester, meine Mutter und ich überlebten, obwohl wir schrecklich unter Hunger, Kälte und Krankheit litten.

Nach dem Krieg gab es keinen Ort mehr, an den man zurückkehren konnte, alle Häuser waren abgebrannt, aber die Menschen kehrten trotzdem auf die Brandstätte zurück, gruben Erdhütten und lebten darin, während neue Häuser gebaut wurden. Das war meine Kindheit!

Meine Frau ist jünger als ich, sie wurde 1943 geboren. In ihrem Dorf erschossen die Deutschen 10 Menschen und brannten zwei Straßenzüge nieder, nur ein paar Häuser standen noch. Eine Lehrerin mit ihrem Baby im Arm wurde bei lebendigem Leib verbrannt.

Der von Hitler und seinen Schergen entfesselte Krieg brachte den Belarussen viel Kummer und Leid. Für ihn und seine Henker gibt es keine Entschuldigung. Aber es gab deutsche Soldaten, die unserem Volk gegenüber Menschlichkeit und Barmherzigkeit zeigten. Meine ältere Schwester, die 15 Jahre alt war, erzählte von einem solchen Fall. Als sie die deutschen Soldaten ins Haus kommen sah, versteckte sie sich im Keller, weil Jugendliche nach Deutschland verschleppt wurden. Meine zukünftige Frau (ein Säugling, der in einer Wiege lag) und meine Mutter waren im Haus. Ein Soldat kam ins Haus und verlangte Milch und Eier. Die Mutter hatte Angst, ihr Kind einem deutschen Soldaten zu überlassen, denn sie wusste, dass in einem Nachbardorf ein Gestapo-Mann einen Säugling getötet hatte, indem er ihn an den Beinen packte und mit dem Kopf gegen die Hausecke schlug. Aber sie traut sich nicht, ungehorsam zu sein, und ging los, um Essen zu holen. Im Keller hörte meine Schwester das Baby aufwachen und weinen. Der Soldat ging zur Wiege und begann, das Baby zu beruhigen, indem er etwas in seiner Sprache sagte und komische Handbewegungen machte. Als die besorgte Mutter ins Haus lief, sah sie den lächelnden Soldaten über die Wiege gebeugt und das lachende kleine Mädchen.

Als meine zukünftige Frau heranwuchs, erzählten meine Schwester und meine Mutter ihr von dem Vorfall. Sie erinnerte sich für den Rest ihres Lebens daran, erzählte es mir und unseren Kindern, Enkeln und Urenkelkindern. Wir verstanden, dass es sich nicht um einen Gestapo-Mann gehandelt hatte, sondern um einen einfachen Soldaten, der vielleicht selbst Kinder hatte und dem menschliche Gefühle nicht fremd waren.

Wir Belarussen erinnern uns an alles: an die Gräueltaten, die Schikanen, die Ermordung von Zivilisten – Frauen und Kindern -, an verbrannte Dörfer und Dörfer, die mitsamt ihren Bewohnern verbrannt wurden, an unsere geraubte Kindheit. Das darf nicht in Vergessenheit geraten, und wir geben die Erinnerung an den Krieg an unsere Kinder, Enkel und Urenkel weiter, damit sie es wissen und sich erinnern, damit sie nicht zulassen, dass es Krieg gibt. Wir erinnern uns aber auch daran, dass nicht alle Deutschen, die in unser Land kamen, Barbaren, Mörder und Verbrecher waren. Wir erinnern uns an die Menschlichkeit und die Barmherzigkeit der einfachen Soldaten; wir erzählen unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln von ihnen, damit auch sie es wissen und sich erinnern.

Wir, die Kinder des Krieges, die keine Kindheit hatten und einen schrecklichen Krieg erlebt haben, wollen nicht, dass unsere Nachkommen so etwas durchmachen müssen, wir wollen, dass sie in Frieden leben, damit niemand mehr in unser leidgeprüftes Land eindringt.

Wir danken Ihnen für das Geld, das Sie gesammelt und uns geschickt haben. Natürlich wird dadurch weder der materielle noch der moralische Schaden ausgeglichen, aber es ist eine Geste des guten Willens. Und wir freuen uns darüber, dass die deutsche Seite die Tragödie verstanden hat und das Elend, das der Zweite Weltkrieg den anderen Völkern gebracht hat, den die Wehrmacht und ihre Helfer angezettelt hatten. Wir hoffen, dass Sie in dieser unruhigen Zeit, wo Faschismus. Rassismus und Nationalismus wieder an verschiedenen Orten ihr Haupt erheben, deren Rückkehr auf unseren Boden nicht zulassen werden, da es doch in Deutschland Menschen gibt wie die, die diese Stiftung organisiert haben, und die, die Lehren der Vergangenheit gelernt haben.

Mit Hochachtung und den besten Wünschen

Viktor Grigor’evich Ch.

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarov