Aleksey Innokentjewitsch Chomjakow – Freitagsbrief Nr. 90

Diesen Brief eines ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen erhielten wir im März 2009. Damals gingen bei uns so viele Berichte ein, dass wir viele nicht als Freitagsbriefe publizieren konnten, obwohl es sich gelohnt hätte. Das holen wir jetzt nach.

Aleksey Innokentjewitsch Chomjakow
Russland, Gebiet Rjasan

Guten Tag, sehr geehrte Damen und Herren!

Vielen Dank für Ihre guten Wünsche zum Neuen Jahr 2009! Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien beste Gesundheit, Wohlergehen und Erfolg!

Ihren Frauen und allen deutschen Frauen wünsche ich anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März das Allerbeste und ein langes Leben!

Ich danke Ihnen sehr für die finanzielle Unterstützung! Die Summe ist nicht sehr hoch, aber wichtig ist die Anteilnahme. Sie ist viel mehr wert als jedes Geld!

Ich kann mich noch sehr gut an den 22.6.1941 erinnern, einen Sonntag, als der deutsche Angriff gegen die UdSSR begann. Hitler (sein wirklicher Nachname war Schicklgruber) prahlte in der ganzen Welt damit, dass er die Russen das Kämpfen lehren möchte. Woher ich diesen Ausspruch kenne, weiß ich jetzt nicht mehr.

Die Hitler-Prahlerei drang bis zu Josef Stalin (Dshugaschwili) vor. Er ließ in etwa Folgendes verlauten: „Bei mir wird Hitler das Kämpfen verlernen, ich werde ihn in den Tod treiben, ins Grab bringen.“ Am 3.7.1941 sagte er dann im Radio für die ganze Welt: „Die Gerechtigkeit ist auf unserer Seite! Wir werden siegen!“

Das Ende des Krieges lag noch in weiter Ferne und es war schwer seinen Ausgang vorherzusagen. Wer würde wen bezwingen? Es stellte sich heraus, dass die Wahrheit auf der Seite Stalins war. Wir haben ihm geglaubt. Und uns nicht getäuscht. Fast alle europäischen Länder glaubten ihm. Sie zweifelten nicht an der Kampfkraft der Roten Armee.

Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich Ihren Brief bekommen habe und auch die 300 Euro umgerechnet in Rubel. Ich muss zugeben, dass das für mich unerwartet kam. Schließlich sind etwa 67 Jahre vergangen, seitdem mich deutsche Soldaten halb lebendig auf dem Kampffeld aufgesammelt haben. Ich war blutüberströmt und gab nur schwache Lebenszeichen von mir, sie wollten mich erschießen, damit ich nicht weiter leiden musste. Man konnte ja alles auf den Krieg schieben. Aber unsere russischen Soldaten sagten ihnen, dass ich Arzt sei, zeigten ihnen die Rangabzeichen auf meinen Schulterstücken und auch das Abzeichen mit Stab und Schlange. Das hat mir das Leben gerettet. Als ich wieder zu mir kam, merkte ich, dass ich mich hinter Stacheldraht befand, in der Gefangenschaft.

Das war am 26.7.1942 an der Kalinin-Front, nicht weit von der Kreisstadt Olenino bei Rshew. Unser Regiment, in dem Soldaten aus Sibirien dienten, war bei der Verteidigung Moskaus von den Nazi-Truppen eingekesselt worden, wir hatten das Moskauer Gebiet und das Gebiet Kalinin von den feindlichen Besatzern befreit, von Schikanen, Gewalt, Zerstörung und Plünderungen.

Wir führten einen erbitterten Kampf, eroberten die Fahne einer deutschen Einheit, fügten den Deutschen spürbare Verluste zu, verloren aber auch selbst genauso viele Männer. Krieg ist Krieg, es geht darum, wer wem mehr Verluste zufügen kann.

Ich war damals 24 Jahre alt. Ich war Militärarzt, Chirurg und Unfallarzt, beschäftigte mich mit der vorbeugenden Behandlung von Fleck- und Bauchtyphus, Ruhr und anderen Krankheiten. Sie sind Begleiter des Krieges, die Geißel der Soldaten.

Von dem Tag an war ich Häftling in den Konzentrationslagern der Nazis, sowjetischer Kriegsgefangener. Es begann der Kampf ums Überleben unter unmenschlichen Lebensbedingungen. Ich war in den Lagern in Olenino, Rshew, Kalinin, Lesnaja (Weißrussland), Kaunas (Litauen) und Fürstenberg an der Oder (Deutschland), das war das Stalag III-B, in dem es Franzosen, Amerikaner und andere Nationalitäten gab.

Für mich war es in den Lagern sehr schwer. Ich hatte an der Front viel Blut verloren, hatte Verletzungen am Kopf, am Unterkiefer, am Rücken und am Bein. Ich brauchte Nahrung. Die Essensration für die Russen war aber mickrig: Ersatzbrot, das zur Hälfte aus Sägemehl bestand, und eine stinkende, Übelkeit erregende Balanda; kein Fett, kein Fleisch, kein Zucker, kein Getreide etc.

Die Kriegsgefangenen bekamen Mangelkrankheiten und Ödeme und die Sterblichkeit war sehr hoch. Auch ich spürte mein Ende nahen, mit jedem Tag wich etwas mehr Leben mehr aus mir.

Ich kann mich an das Datum nicht mehr erinnern, aber es war im September. Ein Arzt kam zu uns ins Lager, fragte, wer Flecktyphus habe, sie bräuchten einen Arzt, der schon Flecktyphus gehabt hatte, und der die Typhuskranken behandeln könne, es gäbe viele Kranke. Ich erkannte meine Chance, sagte, ich hätte die Krankheit schon mal gehabt. Er nahm mich mit und brachte mich ins Lazarett. Für mich war es egal, wo ich sterben würde, und im Lazarett hatte ich vielleicht eine Chance zu überleben, dort bekam man mehr Balanda, und anderes Essen gab es nicht.

Den Nachnamen dieses Arztes weiß ich noch. Er hat mir das Leben gerettet. Nach dem Krieg, 1967, habe ich ihn ausfindig gemacht, ich war bei ihm zu Hause und habe seine Familie kennengelernt.

Zu Neujahr 1943 dachte ich schon wieder ans Leben und an eine Flucht aus der Gefangenschaft um jeden Preis. Aber die Flucht misslang, ich wurde gefasst, sie verprügelten mich, ließen mich im Frost stehen, schlugen mich mit Ruten und Gewehrkolben und steckten mich für lange Zeit in den Karzer. Im Unterschied zu den ersten Kriegsjahren wurden die Entflohenen aber nicht mehr erschossen. Die SS-Leute wurden zu Ende des Krieges nervös, sie wussten, dass sie den Ausgang des Krieges schon nicht mehr zu ihren Gunsten ändern konnten. Ihre Angriffsoperationen (die Schlacht um Stalingrad, die Schlacht am Kursker Bogen und andere, wie die Gefechte um Moskau und Leningrad) scheiterten, es krachte an allen Ecken und Enden. Sie wussten, dass Deutschland den Krieg schon verloren hatte, aber Hitler war ein Fanatiker, er wollte es immer noch nicht glauben, schickte immer weiter sinnlos Soldaten gegen die sowjetischen Streitkräfte in den Kampf, sogar dann, als die Russen schon fast Berlin eingenommen hatten.

Im Februar 1945 wurden wir, die Gefangenen des Stalag III-B, aus den Betten geholt und dann trieben sie uns in Kolonnen durch ganz Deutschland, damit wir den Truppen der Roten Armee nicht in die Hände fielen. Wir arbeiteten bei den Bauern in der Landwirtschaft, die Deutschen wollten uns an die Amerikaner ausliefern, aber das klappte nicht.

Seit dem 6.6.1944 gab es zwar die Zweite Front, aber sie bewegte sich langsam vorwärts, nicht so wie an der Ostfront, wo die Russen die Deutschen schnell zurück trieben.

Ende Februar 1945 floh ich aus meinem Arbeitstrupp und wurde von Truppen der Roten Armee befreit. Ich hatte großes Glück, denn ich geriet in eine angreifende Division, in der am Vortag der Chirurg gestorben war, so nahmen sie mich an seiner Stelle ins Krankenrevier des Regiments. So kam ich bis nach Berlin. Das war am 26. April.

Das war für mich eine große Freude und ich hatte natürlich nie damit gerechnet. Wie man so schön sagt, vom Schiff kam ich sofort zum Festball – das ist ein russisches Sprichwort. Ich war beim Gebäude der Reichskanzlei, am Brandenburger Tor, bin durch die Göringstraße und die Wilhelmstraße gelaufen, über den Potsdamer Platz, Unter den Linden und durch andere Viertel Berlins. Überall roch es nach Verbranntem und nach Blut, es schnürte einem den Hals zu, das Atmen fiel einem schwer. Berlin war sehr in Mitleidenschaft gezogen, der Reichstag hatte keine Kuppel mehr und über ihm wehte die Siegesflagge, auch über anderen Gebäuden. Aus den Fenstern der Wohnhäuser hingen weiße Tücher. Alle wollten die bedingungslose Kapitulation.

Berlin im Sieges-Mai 1945: Fort war Hitler, der solch grausame Pläne gegen die Sowjetunion und ihr Volk gehegt hatte, gegen den Kommunismus und gegen Iosif Wissarionowitsch Stalin.

……..

Ich möchte Ihnen noch von vielem erzählen, von allem anderen. Aber das Schreiben fällt mir schwer, meine Hände gehorchen mir nicht mehr. Ich bin 91 Jahre alt, dazu die Kopfverletzung, mit dem Kopf stimmt etwas nicht, ich musste den Arztberuf aufgeben und einen anderen Beruf erlernen.

Ich schreibe handschriftlich. Ich denke, Sie werden es entziffern können. In Deutschland gibt es viele sowjetische Deutsche, sie haben ihre Muttersprache noch nicht vergessen, sie können Ihnen helfen, den Brief zu lesen und zu übersetzen.

Ich möchte gerne mit etwas Positivem meinen Brief beenden. Ich höre im im russischen Radio oft ein patriotisches Lied, darin gibt es folgende Worte:

„Ein russischer Bursche verbrennt nicht im Feuer,

Ein russischer Bursche geht im Wasser nicht unter.“

Irgendwie scheinen die Worte auch für mich zu sein.

Auf Wiedersehen. Ich bleibe meiner Heimat treu. Ich möchte noch anfügen, dass ich in der UdSSR keinen Verfolgungen ausgesetzt war. 1958 wurde ich Kommunist, ich war Abgeordneter im Stadtrat von Sosowo, dann Stellvertretender Vorsitzender des Stadtrates.

Ich war ehrenamtlicher Mitarbeiter der Polizei, Korrespondent für viele Gebiets- und Kreiszeitungen, ich habe eine Auszeichnung der Partei, staatliche Auszeichnungen (einen Orden, 22 Medaillen, zwei Brustabzeichen von der Armee und der Division, zwei Brustabzeichen Sieger im sozialistischen Wettbewerb), habe 39 wissenschaftliche Aufsätze im Bereich Medizin veröffentlicht.

Ich wurde im November 1945 in Deutschland in die Rote Armee einberufen und habe den Fahneneid abgelegt. Ich bin Oberstleutnant im medizinischen Dienst a.D. Ich habe auch viele gesellschaftliche Aufgaben übernommen. Heute nicht mehr. Ich bin alt und krank. Seit dem 22.3.2002 bin ich Witwer.

Mit freundlichen Grüßen,

A. Chomjakow

März 2009

Aus dem Russischen von Valerie Engler