Jahrzehntelang war das millionenfache Sterben der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern kein Thema für die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland: Natürlich habe es im Krieg auch Härten für die sowjetischen Gefangenen gegeben, schlimmer aber seien die Leiden deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion wie auch der Massenflucht aus dem Osten gewesen. An sowjetische Kriegsgefangene wollte sich die westdeutsche Nachkriegsöffentlichkeit entweder als primitive, aber durchaus gutmütige Arbeitskräfte oder als plündernde Marodeure nach ihrer Befreiung aus den Lagern erinnern. Und auch die sowjetische Öffentlichkeit schwieg über diese Kriegsopfer, hatten sie doch keinen Anteil am heroisch erkämpften Sieg und – schlimmer noch – lastete auf ihnen der Stalinsche Verdacht der Feigheit und sogar des Verrats.
Erst 1978 erschien in der BRD die erste – bis heute grundlegende – Untersuchung, die deutlich machte, dass von 5,5 bis 6 Millionen sowjetischen Soldaten, die zwischen 1941 und 1945 von der deutschen Wehrmacht gefangengenommen wurden, ca. drei Millionen, also 55 bis 60{b477382f93243bb2231a6cb357c65dd632b36f071b7ee5f312aa6aafb5657738} starben. Die Sterblichkeitsrate der Kriegsgefangenen anderer Nationen in deutschem Gewahrsam betrug 2–5 {b477382f93243bb2231a6cb357c65dd632b36f071b7ee5f312aa6aafb5657738}. Es ist bis heute ein mühseliger, längst nicht abgeschlossener Prozess, diese Verbrechen genau und umfassend zu erforschen und die deutsche Öffentlichkeit über die Fakten und die Dimension dieses riesigen Verbrechenskomplexes der nationalsozialistischen Herrschaft aufzuklären, deutlich zu machen, dass nicht widrige Umstände oder Fehlorganisation, sondern zehntausende Erschießungen sowie der bewusste Entzug der Nahrung und völlig unzureichende Unterbringung Ursache des Massensterbens waren. Diese drei Millionen Toten sind in Deutschland heute gewiss nicht mehr vergessene Opfer, aber sie stehen immer noch an der Peripherie unseres Bildes von den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen. Und hier drängt sich jenseits des genauen Aufdeckens der Fakten und der Vergegenwärtigung dieses millionenfachen Verbrechens die Frage nach den Ursachen, nach den Antriebskräften, die bei den Tätern wirksam waren und Grundlage ihrer Planung waren.
Wie war ein solcher Plan, wie war die Realisierung solcher Planungen möglich? Womit konnte der Generalquartiermeister im Oberkommando des Heeres, General Wagner, im November 1941 seine apodiktische Aussage rechtfertigen, dass Kriegsgefangene (und damit waren ausschließlich sowjetische Kriegsgefangene gemeint), die nicht für die Wehrmacht arbeiteten, zu verhungern hätten. Diese Forderung fand keinen Widerspruch unter den Zuhörern – Armeeoberbefehlshaber und deren Generalstabsoffiziere. Nach allen Kategorien des Kriegsvölkerrechts wie auch des traditionellen militärischen Denkens war auch im nationalsozialistischen Deutschland eine solche Forderung bis dahin eine Ungeheuerlichkeit. Jetzt waren zwei zentrale Elemente der NS-Ideologie, die auch die konservativen Eliten und große Teile der Bevölkerung teilten, zur festen Leitlinie der deutschen Kriegsplanung geworden und begründeten eine derartige Forderung.
Das eine Element war die nationalsozialistische Ideologie vom „Lebensraum im Osten“, also in Osteuropa, den Deutschland angeblich benötige, um überleben zu können. Diese Forderung nach „Lebensraum“ gehörte von Anfang an zu den Grundforderungen Hitlers. Die Kolonien, die Großbritannien und Frankreich in Übersee gefunden hatten, sollte Deutschland demnach im Osten Europas auf den Territorien Polens und der Sowjetunion finden. Damit (und nicht durch Handelsaustausch) sollte es seinen Bedarf an Agrarprodukten und Bodenschätzen befriedigen und dadurch auch im Kriegsfall keine fremde Hilfe benötigen. Dieser eroberte „Lebensraum“ sollte von deutschen Siedlern bearbeitet werden. Dadurch sollte zugleich die Verstädterung, die als Zersetzung traditioneller Ordnung verteufelt wurde, gestoppt werden und das ländlich-dörfliche Leben wieder einen zentralen Platz erhalten.
Das findet sich nicht nur als programmatische Forderungen in Hitlers „Mein Kampf“, schon direkt nach der Machtübernahme stimmte Hitler in einer ersten Besprechung (und später noch öfter) die Führung der Reichswehr auf diese Zielsetzung ein – und traf dort zwar vereinzelt auf Skepsis über die Möglichkeit, diese Ziele zu verwirklichen, grundsätzlich aber auf Zustimmung. Der Friede von Brest-Litowsk hatte ja schon 1918 für kurze Zeit eine solche informelle Ostkolonie des kaiserlichen Deutschland errichtet. Diese Zielsetzung wurde kurzfristig zwar von anderen taktisch bestimmten Prioritäten überlagert, aber nie grundsätzlich aufgegeben.
So schien zwar im September 1939 mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag dieses Ziel aufgegeben zu sein, schien sich die deutsche Führung mit West- und Zentralpolen als Ostkolonie zufrieden zu geben. Aber die grundsätzliche Zielsetzung, ganz Osteuropa bis zum Ural zu beherrschen und auszubeuten, war keineswegs aufgegeben. Solche Wunschbilder blieben nicht allgemein, die in Hitlers „Mein Kampf“ formulierte Zielsetzung, den „Germanenzug“ vom Süden nach Osten zu lenken, nicht nur Theaterdonner. Diese Perspektive bekam Aktualität nach dem Sieg über Frankreich im Juli 1940, als klar wurde, dass der Krieg im Westen keineswegs beendet, Großbritannien den Kampf fortsetzte und in dieser Situation nicht zu besiegen war. Da es zugleich auch zu schwach für einen Angriff auf den deutschen Machtbereich war, wollte die deutsche Führung das große programmatische Ziel – Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“ und Schaffung von „Lebensraum im Osten“ – nicht erst nach dem Sieg im Westen angehen, sondern umgekehrt den schnellen Sieg über die Sowjetunion und die damit eroberten Ressourcen, Agrarprodukte und Bodenschätze, für den abschließenden Sieg über Großbritannien nutzen. Der geplante Blitzkrieg im Osten sollte spätestens nach vier Monaten siegreich beendet sein.
Bei der Konkretisierung dieser Planung wurde schnell deutlich, dass die SU seit der Schaffung eines großen Industriesektors kaum noch Lebensmittelüberschüsse für den Export produzierte. Die Führung des Dritten Reiches gab deswegen jedoch die Planung keineswegs auf, sondern zog daraus den Schluss, den sowjetischen Industriezentren die Zufuhr von Lebensmitteln abzuschneiden, um die Agrarprodukte für die deutsche Kriegführung, vor allem die Versorgung der Wehrmacht, umleiten zu können. „Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“, so die Aktennotiz über eine Besprechung hoher Beamter und Militärs am 2. Mai 1941. Wie andere Planungsdokumente zeigen, wurde mit ca. 30 Millionen Hungertoten, „überflüssigen Essern“, gerechnet. Dadurch sollte auch das Land langfristig für die geplante deutsche Besiedlung entvölkert werden. Diese Aussagen waren keineswegs Geheimwissen der obersten Führung, sondern weit nach unten verbreitet: Für den deutschen Sieg sei es eben eine „notwendige Härte“, dass diese Menschen nicht versorgt werden sollten.
Da die deutsche Führung annahm, in maximal vier Monaten die Sowjetunion besiegen und danach einen Teil der Soldaten entlassen zu können, sah man bei Kriegsbeginn keinen Bedarf für die Arbeitskraft der sowjetischen Kriegsgefangenen. Wie erwartet, war das nach den siegreichen Kesselschlachten der ersten Monate eine Millionenzahl, die gemäß den Hungerplanungen nur mit restlichen Lebensmitteln versorgt wurden, die nicht anderswo gebraucht wurden. Der Tod von zwei Millionen der drei Millionen bis Mai 1942 gefangen genommenen Rotarmisten war die Folge.
Die gleichen Grundsätze der Hungerpolitik galten, als die deutschen Truppen Leningrad eingeschlossen und den Hungertod aller drei Millionen Einwohner der Stadt vorgesehen hatten. Auch wenn diese Planung nur teilweise verwirklicht wurde, starben annähernd eine Millionen Leningrader. Hungertod durch Raub der Lebensmittel war aber nicht auf diese Brennpunkte beschränkt. In vielen Dörfern und Städten der „Kahlfraßzonen“, in denen alle Vorräte abtransportiert wurden, starben die ausgeraubten und sich selbst überlassenen Einwohner. Allein in Charkow betrug die offiziell registrierte Zahl der Hungertoten im Jahr 1942 über 14 000 Menschen.
Ende 1941 steuerte die deutsche Führung in der Frage der sowjetischen Kriegsgefangenen um. Da der Blitzkrieg gescheitert war, wurden Arbeitskräfte in großer Zahl benötigt, die man nicht zuletzt mit diesen Kriegsgefangenen in der Hand hatte. Die alte Planung wurde damit jedoch nicht grundsätzlich aufgegeben, sondern lediglich in der Weise modifiziert, dass das Lebensrecht der sowjetischen Gefangenen ausschließlich durch ihre Arbeitskraft begründet wurde. In dieser konkurrierenden Spannung zwischen möglichst effizienter Ausbeutung der Arbeitskraft und der Vernichtung der als überflüssig und bedrohlich angesehenen Gefangenen starben dann bis zum Kriegsende noch über eine weitere Million sowjetische Kriegsgefangene.
Das Ziel, „Lebensraum“ durch millionenfache Vernichtung der Einwohner Osteuropas durch Hunger oder direkte Gewalt zu erobern, zog seine Rechtfertigung aus einem radikalen biologistischen Rassismus, der die Menschheit nach Herren- und Sklavenrassen aufteilte. Damit ist neben der Lebensraumideologie das andere Axiom benannt, das die Grundlage für eine derartige Vernichtungspolitik bildete. Denn die vermeintlich machtrationale Menschenökonomie der Forderung nach Lebensraum beruhte auf einem emotional aufgeladenen und ins Extreme gesteigerten Ideologiekonstrukt von der Ungleichheit der „Rassen“, worin die Ethnien der slawischen Sprachgruppen zu einer biologisch definierten minderwertigen Rasse erklärt wurden. Derartige Ideen waren nicht erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden und keineswegs auf Deutschland beschränkt, wurden dort aber seit 1933 eine Leitlinie der Politik.
In der Rassehierarchie dieser Ideologie standen die hellhäutigen Ethnien Europas über allen Gruppen der übrigen Welt. Innerhalb Europas waren jedoch in diesem Bild die slawischen Gruppen auf der untersten Stufe, unfähig zu Kultur und Fortschritt aus eigener Kraft. Da der radikale NS-Antisemitismus auch die Juden rassistisch und nicht religiös definierte, hätten sie demnach den untersten Platz in der Hierarchie einnehmen müssen. Sie fielen aber insofern aus dem Schema, als sie zum radikalen Gegenbild, zur Verkörperung des universalen Bösen erklärt wurden, das nur durch vollständige Vernichtung aus der Welt zu schaffen sei.
Russen nahmen unter den slawischen Ethnien allerdings einen besonderen Platz ein. Das russische Reich, ab 1917 Sowjetrussland-Sowjetunion, das die größte Zahl von Slawen unter absolutistischer bzw. diktatorischer Herrschaft zusammenfasste, war in der europäischen Staatenkonkurrenz ein wesentlicher Machtfaktor. Die in den Kategorien der Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts zugesprochenen Eigenschaften sprachen Polen und Russen durchaus ähnliche negative Qualitäten zu – Primitivität, Leben im Schmutz, unbeherrschte Emotionen. Aber für die Großmacht Russland kam noch das Moment der Bedrohlichkeit hinzu, die auch in den Volkscharakter projiziert wurde. Russland war demnach „sinnlich-despotisch“, „asiatisch“ oder „barbarisch“. Auch als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts russische Kultur in Deutschland durchaus positiv aufgenommen wurde, suchte man das Spezifische in der Abgrenzung zum eigenen „Europäischen“. Nicht Gontscharow oder Turgenjew, sondern Tolstoj und Dostojewskij galten als typisch russisch: elementar und weniger zivilisatorisch angekränkelt.
Im Ersten Weltkrieg wurde die Vorstellung vom barbarischen Charakter Russlands zugespitzt, wurde der Krieg an der Ostfront zur Verteidigung europäischer Kultur gegen asiatische Barbarei stilisiert – und im siegreichen Kriegsverlauf ein erstes informelles Kolonialreich aus dem Bestand des russischen Reiches herausgeschnitten. Nach den russischen Revolutionen von 1917 und der deutschen Revolution im November 1918 verschmolzen alte Feindbilder: asiatische Barbarei und Wildheit mit kommunistischer Revolution, die alle bürgerliche Ordnung und Kultur zerstören würden. Auf das Äußerste gesteigert wurde das Feindbild noch durch den beigemengten Antisemitismus, da die russische wie die deutsche Revolution von vielen als jüdisch beeinflusst, wenn nicht sogar als Teil einer jüdischen Verschwörung gesehen wurden.
Das deutsch-russische Zweckbündnis der Weimarer Republik ließ derartige Angstkomplexe in den Hintergrund treten, ohne dass sie damit verschwunden wären. Die kommunistische Proklamation der Weltrevolution gab der Angst weitere Nahrung. So konnte die nationalsozialistische Propaganda mit der Angst vor Kommunismus und russischem Bolschewismus vor 1933 deutlich mehr Deutsche auf ihre Seite ziehen als mit radikalem Antisemitismus. Mit dem 30. Januar 1933 wurde die Beschwörung der russisch-asiatisch-bolschewistischen Gefahr aus dem Osten und des notwendigen Kampfes dagegen, wurde zugleich das Ziel der Eroberung von Lebensraum im Osten zur immer neu propagierten Staatsideologie. Im August 1939 wurde diese Propaganda auf Eis gelegt (aber nie dementiert) und mit dem 22. Juni 1941 erneut aktiviert und verstärkt.
Indem diese Propaganda tradierte Ängste aufgriff, war sie nicht nur Sache überzeugter Nazis. Die Erwartung, auf primitive und barbarische Menschen zu stoßen, schien sich im Zusammentreffen mit der ländlichen Bevölkerung in armseligen Hütten zu bestätigen. Es mussten keine fanatischen Nationalsozialisten sein, die als Soldaten 1941 aus Russland nach Hause schrieben: „Russland ist eine elende Wüste. Das kann sich kein Mensch vorstellen. Und dazu dieses verkommene rohe Volk und der Dreck. Ich möchte nicht wissen, was aus Euch und aus Deutschland geworden wäre, wenn die Bolschewisten ins Reich gekommen wären, wie es geplant war. […] Das sind ja gar keine Menschen, sie sind völlig vertiert. Aber es kann sich jeder drauf verlassen, wir geben es ihnen, wo sie auch sind…“
Allzu viele Deutsche, Soldaten wie auch Zivilisten, teilten diesen Blick auf die Bevölkerung und die Soldaten der Sowjetunion. So traf die Planung der deutschen Führung auch kaum auf Unwillen oder gar Widerstand. Zugleich finden sich in den Berichten ehemaliger sowjetischer Soldaten aus deutscher Kriegsgefangenschaft neben dem Elend und Schrecken dieser Gefangenschaft zahlreiche Zeugnisse über menschliches Verhalten der deutschen Bevölkerung. Hier wurde die direkte Begegnung von Individuen wirksam, schob sich vor das Feindbild von russophober Tradition und NS-Propaganda die eigene Anschauung von gefangenen Menschen.
Peter Jahn