Ukraine, Kiew
15.04.2008
Sehr geehrter Eberhard Radczuweit!
Vielen Dank für Ihre Hilfe an die Opfer der nationalsozialistischen Okkupation. Kurz etwas zu mir.
Ich, B. Swjatoslaw Aristachowitsch, wurde am 7. April 1940 in Perejaslaw-Chmelnizkij in der Oblast Kiew geboren. Unsere Mutter, geborene E. Kupa Minajewna, nach der Heirat B. Jekaterina Michajlowna, hatte zum Zeitpunkt des Krieges 1941 drei kleine Kinder: mein älterer Bruder B. Michail, geb. 1936, sowie ich und meine Schwester, deren Geburtstag am selben Tag und im selben Jahr wie meiner ist, also am 7. April 1940, – B. Ljudmila. Aus diesem Grund konnte meine Mutter nicht evakuiert werden und blieb im besetzten Gebiet in der Stadt Perejaslaw-Chmelnizkij.
Gleich in den ersten Tagen des Krieges wurden mehr als 600 jüdische Stadtbewohner erschossen. Unsere Mutter versteckte sich mit uns am Rande der Stadt bei entfernten Verwandten meines Vaters.
Tagsüber hielten wir uns in Erdspalten versteckt, und zum Schlafen gingen wir ins Haus. Als die erste Welle der Massenerschießungen vorbei war, wollten wir nach Hause zurückkehren, aber in unserem Haus war bereits das Stabsquartier irgendeiner Militäreinheit eingerichtet. Wir hausten, wo es nur ging, im Schuppen, im Keller oder im Erdloch im Gemüsegarten. Als diese Einheit weg war, konnten wir wieder nach Hause zurückkehren. Unsere Mutter ließ uns Kinder nicht vom Hof, und auch sie selbst blieb im Haus. Manchmal versteckten wir uns bei einer anderen ukrainischen Familie, der von Ljudtschenko Grigorij Iwanowitsch, dessen Haus gleich gegenüber stand. Dieses Leben dauerte eine ganze Weile an. Wir ernährten uns von dem, was im Garten wuchs, einschließlich Gras und Unkraut.
Mit dem Beginn der Befreiung der Oblast Kiew linksseitig vom Fluss, wo auch Perejaslaw-Chmelnizkij liegt, flammte die Verfolgung von Menschen jüdischer Nationalität wieder auf. Im Frühling 1943, offenbar auf irgendjemandes Anzeige hin, kamen plötzlich ein Deutscher und ein Polizai zu uns und wollten unsere Mutter mitnehmen. Ich krallte mich an meiner Mutter fest, den Deutschen biss ich in den Finger. Er trat daraufhin mit seinem Stiefel gegen mein rechtes Knie. Als ich zu mir kam, war meine Mutter nicht mehr da. Sie wurde am 14. Mai 1943 erschossen, zusammen mit den anderen sieben Juden, die in der Stadt noch übriggeblieben waren. Nach der Verhaftung unserer Mutter nahmen uns bis zur Befreiung der Stadt die Eltern unseres Vaters zu sich, Pensionäre im hohen Alter.
Unsere Oma, die Mutter unseres Vaters, wurde mehrmals in die Kommandantur zum Verhör geladen, danach weinte sie immer, wollte uns aber nichts erzählen. Nach der Befreiung von Perejaslaw gab es eine Identifizierung der Toten, unter ihnen war auch meine Mutter. 1951 wurde sie in einem Brudergrab beigesetzt. Ich war nach dem Stiefeltritt zehn lange Jahre ans Bett gefesselt, weil meine Wirbelsäule auch beschädigt worden war, erst 1953 konnte ich wieder aufstehen und sah erstmals meine Schwester und meinen Bruder wieder.
Mein Vater, B. Aristarch Jakowlewitsch, fiel 1945 in Preußen.
Mit 15 war ich gezwungen zu arbeiten, weil mein Großvater verstorben und meine Großmutter nicht mehr in der Lage war, uns zu ernähren. Ich habe am pädagogischen Institut in Brjansk studiert, wurde Geschichtslehrer. Jetzt bin ich Pensionär, aber ich muss etwas dazuverdienen, weil die Rente sehr klein ist – obwohl ich 50 Jahre lang gearbeitet habe.
Noch einmal vielen Dank für die Hilfe.
Hochachtungsvoll und mit freundschaftlichen Grüßen
Swjatoslaw B.
Aus dem Russischen von Jennie Seitz