Sinaida Jewdokimowa S. – Freitagsbrief Nr. 158

Kyjiw, Ukraine
3.12. 2020

Guten Tag!

Ich möchte Ihrem Verein, der ukrainischen Stiftung „Gegenseitige Verständigung und Toleranz“ und allen, die gespendet haben, meine aufrichtige Dankbarkeit für die mir geleistete medizinische Hilfe ausdrücken. Die Medizin habe ich schon eingenommen und fühle mich etwas besser. Vielen Dank!

Und jetzt ein wenig über mich:

Ich bin am 16. November 1943 in Gefangenschaft geboren. Meine Eltern, Wera Nikitowna Sh. und Ewdokim Afanasjevitsch Sh., geboren 1913, verschleppten die Deutschen aus Lutschin im Gebiet Zhitomir (Ukraine) im Zweiten Weltkrieg am 22. Juni 1942 nach Deutschland. Ich schreibe die Erinnerungen auf, wie sie mir meine Mutter erzählt hat. Sie wurden ohne Wasser und ohne Essen in Güterwaggons transportiert. Bei einem Zwischenhalt wurden alle aus den Waggons gejagt, namentlich aufgerufen und auf Höfe zum Arbeiten verteilt, meine Eltern auf verschiedene, aber in einem Dorf gelegene. Das Dorf war Janowitz im Kreis Römerstadt im Sudentengebiet der Tschechoslowakischen Republik, das von den Faschisten besetzt war.    

Meine Mutter übernahm ein äußerst grausamer Mensch. Nach einem Marsch von 10 Kilometern gab er ihr nichts zu essen und zwang sie, Heu auf den Speicher zu tragen. Von der schweren Arbeit bekam sie Nasenbluten, da fing er auf sie einzuprügeln. Sein Sohn, der auf Heimaturlaub war, verteidigte meine Mutter. Sie hatten einen furchtbaren Streit, und am nächsten Morgen fuhr der Sohn an die Front in der Sowjetunion in den Krieg. Er [der Bauer] brachte meine Mutter unter in einem Lagerraum mit Zementboden, einem Metallbett ohne Matratze und einem Sack Stroh als Kissen. Zu essen gab es saures Brot und eine trübe Brühe. Die Feldarbeit war sehr schwer. Mein Vater arbeitete auf dem „Meierhof“, der einer Gräfin gehörte [Anneliese von Ribbentrop geb. Henkell (Sekt)]. Ihr Mann war Außenminister. Mein Vater erbat die Erlaubnis, dass meine Mutter bei ihm wohnen könnte. Es gab große Schwierigkeiten, aber meine Mutter zog zu ihm in die Baracke um. Mein Vater arbeitete in einem Sägewerk, meine Mutter auf dem Bauernhof, auf dem Feld, im Leinenkombinat im Dorf Neufang. Das Essen war sehr schlecht. Ein Laib Brot auf 20 Personen.

Als die Zeit meiner Geburt herankam, wurden meine Mutter und noch einige werdende Mütter mit dem Zug nach Prag gebracht in eine Geburtsbaracke für Ostarbeiter. Hinter der Baracke war eine Grube ausgehoben, in die die Kinder geworfen wurden, und die Frauen brachte man zurück zur Arbeit. Der Arbeitgeber meiner Eltern, einer von wenigen, nahm alle Mütter mit ihren Neugeborenen mit nach Hause mit dem Gedanken, dass die Kinder für ihn arbeiten könnten, wenn die Eltern tot wären. Die Deutschen sagten, dass 40 Jahre lang keine Frau arbeiten würde, solange es Ostarbeiter gab.

Das war die Hölle! Tag und Nacht war in der Grube Bewegung und Gewinsel. Wenn man so sagen kann, hatten meine Mutter und noch einige andere Frauen Glück. Ich möchte den – inzwischen wahrscheinlich verstorbenen – deutschen Frauen und Männern danken, die unter Androhung der Erschießung meiner Mutter Windeln brachten, Kinderkleidung und Milch, ohne die ich vielleicht nicht am Leben geblieben wäre.

Nach dem Krieg – Kälte, Hunger und schwere Wiederaufbauarbeit. Mein Vater starb nach einem Jahr, 1946, mit 33 Jahren an schwerer Lungenentzündung. Meine Mutter musste die letzten 4 Lebensjahre liegen. Am 10. 12. 2006 verstarb sie.

Nach dem Schulabschluss ging ich nach Kiew, studierte an der Bau-Hochschule und wurde Betriebstechnologin und Bauingenieurin. Ich heiratete. Ich habe zwei Töchter, zwei Enkelinnen, die ihre eigenen Familien haben. Mein Mann ist 2004 gestorben.

Nach der Pensionierung arbeitete ich aktiv in unserer Organisation als Verantwortliche Sekretärin und Hauptbuchhalterin. Wir arbeiteten aktiv mit der Jugend. Wir organisierten Treffen, bei denen wir über das Leben in Gefangenschaft erzählten, damit die zukünftige Generation nichts Derartiges zulassen würde.

Jetzt bin ich krank, Invalidin der II. Gruppe. Leider ist die Situation in der Ukraine instabil, und dann kriecht noch dieses Covid 19 über den ganzen Planeten.

Die einzige Hoffnung ist Gott.

Noch einmal danke!!!

Allen eine gute Gesundheit!!!

P.S. ich habe nichts gegen die Veröffentlichung meiner kurzen Erinnerungen., da all das die Wahrheit ist. Ich habe mich verschiedentlich an verschiedene Archive in Deutschland und Tschechien gewandt. Antwort: nicht gefunden.

Und dank des Einwohners von Prag Jerzy Prokop, Mitglied des Komitees des Europäischen Kongresses der Opfer des Faschismus 1920 – 1945, habe ich eine Kopie des Ortes der Registrierung meiner Mutter, die er fand und uns schickte, wofür ich ihm sehr dankbar bin.