Nowikow Ilja Aleksandrowitsch – Freitagsbrief Nr. 145

Russland, Nishnij Nowgorod

Mai 2007 

Geehrte Mitglieder des Vereins Kontakte, geehrte Vorsitzende Dr. Hilde Schramm, Projektleiter Eberhard Radczuweit.

Wir Kinder von Ilja Aleksandrowitsch Nowikow – Ljudmila Iljinitschna, geb. 1948, Tatjana I., geb. 1951, Aleksandr I., 1953, Natalja I., 1956, wenden wir uns an Sie. Unser Vater lebt, befindet sich aber in einer schlechten Verfassung. Entschuldigen Sie, dass wir nicht auf Ihren ersten Brief geantwortet und uns nicht für die materielle Hilfe bedankt haben. Vielen Dank Ihrem Verein und den einfachen Menschen in Deutschland. Wir erhielten einen Brief und finanzielle Hilfe in Höhe von  300.

Das letzte Jahr 2006 war für uns sehr schwer.  Papa ging es sehr schlecht, nur mit Mühe konnten wir ihn gesund pflegen. Am 19. Juli 2006 wurde Papa 90 Jahre alt. Trotz aller Mängel, Krankheiten, trotz seines schweren Lebens – immerhin hat er fünf Kinder aufgezogen – hatte er doch einen erstaunlichen Lebenshunger. Unserer Liebe, Unterstützung und Pflege ist es sicher zu danken, dass er und unsere Mutter Anastasija Grigorevna leben, aber in einem Zustand, in dem sie ohne fremde Hilfe nicht auskommen können. Beide sind Invaliden der ersten Kategorie. Das ganze Leben (am 17. Januar 2007 haben sie ihr 60-jähriges Hochzeitsfest gefeiert) lebten unsere Eltern sehr bescheiden, lebten nur für ihre Familie. Ich als die älteste Tochter kenne ihre Geschichte am besten. Papa ist nicht mehr in der Lage zu schreiben, ich versuche es daher für ihn zu tun. Viele Jahre fürchtete Papa nach dem Krieg Verfolgung, Repression wegen seiner Kriegsgefangenschaft. Er fürchtete für uns, er verheimlichte sie, war er doch einige Male wegen der Gefangenschaft verhaftet worden. Ich war 12 Jahre alt, ging in die  5. Klasse, lernte Deutsch, als er mir sagte, dass er in Deutschland gewesen war. Er erzählte von der Gefangenschaft, befahl mir aber strengstens, nichts davon zu weiterzuerzählen. Später, in den 80er Jahren, öffnete sich noch eine Seite seines Lebens, darüber werde ich weiter unten schreiben.

Als ich im Jahre 2000 die Dokumente für die Wiedergutmachung fertig machte, sprach Papa viel davon, wie er in  der Gefangenschaft überlebte. Er freute sich damals schon sehr  darauf, dass er die Wiedergutmachung bekommen würde und dass sich evtl. Probleme lösen lassen würden. Aber im Jahre 2003 kam die Ablehnung. Wir beruhigten ihn, sagten ihm, dass die Hauptsache sei, dass er bis jetzt am Leben geblieben sei.

Über sein Vorkriegsleben weiß ich nicht viel. Papa stammt aus einer großen Familie, sie waren sechs Kinder, aus dem Dorf Mezharow Majdan, Bezirk Pilskij, Gebiet Gorkij. Er war ein fleißiger Bursche, konnte sogar nähen. Alle Verwandten waren mit Nähen von Kleidung beschäftigt. Papa nannte man im Dorf den Deutschen wegen seiner Genauigkeit, seiner Meisterschaft, seiner Pünktlichkeit. Er war ein gut gebauter und hübscher Bursche. Das erzählte mir eine ältere  Schwester, meine Tante. Er diente in Moskau bei der Kreml-Wache.

Als der Krieg begann, war er schon im Wachstab der 5. Armee der Südwest-Front, war Kommandeur eines Zuges – Leutnant. Beim Ausbruch aus einer Umzingelung erhielt er eine Quetschung, doch die Soldaten seines Zuges halfen ihm und ließen ihn nicht im Stich. Sie kamen in ein Dorf, wo es ihm sehr schlecht ging, so dass sie ihn dort in einer Familie zurückließen, die ihn wie einen Angehörigen aufnahm. Sie sagten, dass er Anton Wasil´jewitsch Jaremenko oder Jeremenko, genau weiß ich das nicht mehr, hieße. Im August geriet er in eine Razzia und kam mit anderen Burschen in ein Kriegsgefangenen-Sammellager in Krementschug [Stalag 339], wo er bis Juni 1942 blieb. Papa konnte nicht ohne Erregung von diesem Lager erzählen, es fiel ihm sehr schwer.

Im Juni 1942 kam ein ganzer Güterzug mit Kriegsgefangenen in Küstrin an. Leiter des Lagers 3 „C“ war Stabsfeldwebel Gimna. Unter den Gefangenen war auch unser Vater. Auch hier hatte er es schwer, besonders schwer war die Arbeit im Tagebau. Aber dank seiner kräftigen Gesundheit, seiner Jugend, seines starken Willens, der Unterstützung der Freunde, die er in der Gefangenschaft gewonnen hatte, konnte er überleben.

Im Februar 1945 wurde ein Teil der Gefangenen woanders hingebracht. Mit einem Zug über die Oder, tief nach Deutschland hinein. Papa kam auf das Gut  Golzew. Im April 1945  wurden sie von sowjetischen Truppen befreit. Er wurde in eine Versorgungseinheit unter seinem alten Namen übernommen, und als Angehöriger einer Kampftruppe nahm er im Mai am Sturm auf Berlin teil. Nach Kriegsende wurde er nach Süd-Deutschland geschickt, wo er in einem Infanterie-Regiment diente. Kommandeur des Regiments war Repin, die Armee stand unter dem Kommando von Tschuikow. Im Mai 1946 wurde er  demobilisiert und blieb in Deutschland. Hier sollte er auf Vorschlag der Mitarbeiter der Polit-Abteilung in Kursen lernen, wie die Kader auf die Wiederherstellung der Volkswirtschaft  vorzubereiten seien.

Wir haben ein Dokument aufbewahrt, das besagt, dass er vom 28. Mai bis 30. Oktober 1946 die Möbel-Produktion in der Fabrik Alfred Gertner  in der deutschen Stadt Rabenau  studierte. In allen Fächern stand die Note “ausgezeichnet“. Er qualifizierte sich als Möbeltischler der 6. Klasse. Wunschgemäß wurde er nach Lwow geschickt und arbeitete dort ab Februar 1947 in der dortigen Möbel-Fabrik. Nach Lwow kam er schon mit unserer Mutter. Dort wurde ich 1948 geboren. Doch nach zwei Jahren kamen wir durch Mutters Krankheit bedingt  in das Moskauer Gebiet nach Gorkij, was nahe ihrer alten Heimat liegt. Ab 1950 arbeitete er bis zur Pensionierung in einem militärischen Unternehmen, der 189. holzverarbeitenden Fabrik. Im Jahre 2000 kam ein Büchlein heraus “Jahresringe eines halben Jahrhunderts“, eine kurze Geschichte der “78 DOZ“  (so hieß die Fabrik jetzt) der Jahre 1950-2000. Als Veteran der Fabrik bekam Papa dieses Büchlein geschenkt. Auf den ersten Seiten schon wurde Vater erwähnt. “Im Dezember 1950 wurde die erste Ausbildungsgruppe für Tischler aus Soldaten des 3. Zuges des  499. OSB mit 14 Mann gebildet. Sie wurde geleitet von Ilja A. Nowikow, Tischler, Träger der Ehrenbezeichnung ’Meister mit den goldenen Händen‘. Seine Schüler wurden Spezialisten von hohem Rang und unterrichteten später neue Militär-Bauarbeiter im Tischlerbaufach.“  Mutter arbeitete  auch dort, in der Buchhaltung und arbeitete dort bis zur Pensionierung. Papa war ein qualifizierter Arbeiter, mehrmals ausgezeichnet für seine Arbeit mit Ehrenurkunden und Erinnerungsmedaillen. Seine Fotografie befindet sich auf der Ehrentafel. Er aber wehrte sich immer gegen eine Beförderung bei der Arbeit, sogar gegen seine Funktion als Meister, um in den Unterlagen nur nicht seine Kriegsgefangenschaft zu erwähnen. Man vergaß Papa und Mama in der heimischen Produktion nicht, beglückwünschte sie zu den Feiertagen. Zum Tag des Sieges erhielten sie immer Geschenke.

Zu Hause waren wir fünf Kinder. Es ging uns materiell schlecht.  Aber niemals hörten wir Streit unter den Eltern, es herrschte Eintracht und Frieden. Wir wohnten in einem Bretterhaus. In der ganzen Straße wurden 1951 solche Häuser neben der Fabrik gebaut. Wir waren die ersten Bewohner. Neben dem Haus gab es einen Garten und einen Gemüsegarten, in dem Papa und Mama Äpfel, Kirschen, Pflaumen, Beeren und Gemüse anpflanzten. Bis heute leben die Eltern dort. Wir kümmern uns um sie, heizen den Ofen (Holz bekommen sie umsonst von der Fabrik), gehen zum Hydranten auf der Nebenstraße Wasser holen. Wenn es auch schwer für sie ist, geht es den Eltern hier besser, die Luft ist besser, und sie leben in ihren eigenen vier Wände. Sein ganzes Leben war Vater magenkrank. Nach dem Krieg wurde ein Geschwür entdeckt. Er litt an Schlaflosigkeit durch Geräusche im Kopf, was aus der Vergangenheit, seiner Quetschung herrührte, vom Hunger und dem Mangel in den Lagern. Als er 70 war, brach bei ihm ein Geschwür auf. Er wurde operiert und behielt nur 1/3  des Magens, da man eine Geschwulst entdeckt hatte. Mit unserer Hilfe und Unterstützung besiegte er diese Krankheit. Als er 80 war, kam das nächste Unglück – ein Oberschenkenhalsbruch. Und wie er weiterlebten wollte, wie er mit seiner Gebrechlichkeit kämpfte, sein erstaunlicher Lebenshunger. Kein einziges Krankenhaus nahm ihn auf. Im Hinblick auf sein Alter weigerte man sich, ihn zu operieren. Wir pflegten ihn gesund, und nach vier Monaten konnte er auf eigenen Beinen stehen, musste aber mit einem Krückstock gehen. Vor zwei Jahren musste er sich legen, er war auf der Straße hingefallen, hatte einen leichten Schlaganfall, konnte nicht sprechen. Und jetzt steht er schon nicht mehr auf. Ich lebe ständig bei den Eltern. Meine Schwestern kommen fast täglich vorbei und helfen mir, so dass ich mich ein bisschen ausruhen kann.

Und jetzt berichte ich noch über eine andere Seite seines Lebens. Im KZ von Küstrin gab es eine Untergrundgruppe. Einer der Führer war ein Chirurg, wie man sagt ein Arzt aus Leidenschaft, Georgij Fedorowitsch Sinjakow. Unser Vater gehörte zu der Untergrundgruppe, war mit Sinjakow gut bekannt. Mitglieder der Gruppe bereiteten eine Flucht vor, retteten die Entkräfteten und verteilten Informationen aus dem Sowinformbüro. Für die russischen Gefangenen waren diese Blätter mehr wert als Brot. Doktor Sinjakow rettete auch unseren Vater, operierten ihn unter Lagerbedingungen fast ohne Narkose wegen eines vereiterten Blinddarms. Um Doktor Sinjakow ranken sich Legenden. Er operierte und heilte nicht nur Russen, sondern auch Gefangene anderer Nationalitäten, sogar Deutsche, die krank aus der Stadt herbeigebracht worden waren. Es ist möglich, dass Papa sich in dieser Gruppe befand und er ihn dadurch vor Repressionen nach dem Krieg bewahrte. Noch im Dezember 1946, nach Beendigung der Kurse und bei Rückkehr in die Heimat wurden im Laufe von fünf Tagen in der besonderen Abteilung in einer Vorstadt Dresdens seine Personalien  und die ganzen Umständen der Gefangenschaft aufgeklärt. Dass seine Zugehörigkeit zur Untergrundgruppe erhärtet werden konnte, rettete ihn. Man empfahl ihm weiterhin, sich auf die 6. Abteilung zu berufen, wenn man ihn verhaften würde. Aber er wurde weder noch einmal überprüft noch verhaftet. Über den Küstriner Untergrund und den legendären Chirurgen G.F. Sinjakow wurde 1961 berichtet, als in der Literaturnaja Gazeta der Aufsatz “Jegoruschka“ erchien. Er berichtete über die Fliegerin Anna Jegorowa, die im August 1944 von den Faschisten bei Warschau abgeschossen worden war. Mit Verbrennungen wurde sie in das Küstriner Lager gebracht. Sie war zum Tode verurteilt. Doch der russische Arzt Sinjakov rettete sie. Nach dem Krieg lebte und arbeitete er in Tscheljabinsk. Nach dem Artikel in der Literaturnaja Gazeta nahm Papa mit G.F. Kontakt auf, korrespondierte mit ihm. Zwei kleinere Briefe haben wir von ihm. Von ihm hatte auch Papa die Adressen seiner Freunde aus dem Lager. Es gelang ihm aber nicht, sich mit G.F. einmal zu treffen. Er starb  1978 mit 75 Jahren. Aber in den 80ern  traf sich  Papa  mehrmals mit seinen Freunden. Mit Mutter fuhr er nach Moskau und in die Region von Charkov und Noworossijsk. Mehrmals kamen die Freunde auch zu uns. Bis heute haben wir Kontakt mit I.Z. Ehrenburg aus Moskau. Viele sind inzwischen schon gestorben. In jenen Jahren waren wir Kinder, waren zu jung. Alle hatten sie Familien, Kinder, Arbeit. Und die Eltern wollten uns nicht mit ihrer Vergangenheit belasten. Daher ist vieles verloren gegangen. Unser Vater hat sein ganzes Leben lang bewundernswert Schmerz und Leid in seinen jungen Jahren tapfer ertragen. An alles erinnerte er sich bis hin zu den Familiennamen und Bezeichnungen, aber davon erfuhren wir erst, als er in fortgeschrittenem Alter war. Wir freuen uns sehr drüber, dass es in Deutschland Menschen gibt, die gegen den Faschismus sind, für den Frieden arbeiten und sich für das gegenseitige Verständnis unserer Völker einsetzen. Dank für Ihre Arbeit. Wir empfinden große Hochachtung vor dem ganzen deutschen Volk.

Mit Interesse haben wir von dem Buch der Erinnerung “Ich werde es nie vergessen“ erfahren. Mit den besten Wünschen von der ganzen Familie Ilja Aleksandrowitsch Novikows. Dazu gehören auch noch fünf Enkel.

Auf Wiedersehen.