Nelly Alekseyevna R. – Freitagsbrief Nr. 210

Gebiet Gomel, Belarus
April 2022

Sehr geehrte Gottfried, Sibylle und alle Mitglieder Ihres Vereins, guten Tag!

Die Lektüre Ihres Briefes hat Erinnerungen an die schreckliche Zeit geweckt und mich zu Tränen gerührt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Ihr Verständnis und Ihre Verurteilung der grausamen Verbrechen, die Ihre Landsleute gegen unser Land begangen haben. Krieg ist ein schlimmes Wort, schlimme Taten, aber Krieg gegen unbewaffnete, wehrlose alte Männer, Frauen und Kinder ist dreifache Unmenschlichkeit.

Die Grausamkeiten des Nazi-Regimes kannten keine Grenzen. Ich werde sie nicht alle aufzählen. Meine Erinnerungen an die Geschichten meiner Verwandten sind hart und unangenehm für mich und für Sie, die Sie nicht gleichgültig sind. Sie schreiben, dass Sie sich für die Taten Ihrer Vorfahren schämen und dafür, dass diese sich nicht entschuldigt haben. Es ist gut, dass junge Menschen ein Gewissen und Mitgefühl haben.

Vielen Dank, nicht für das Geld, das ich vielleicht erhalte (oder auch nicht), sondern dafür, dass Sie die Schuld fühlen, die nicht die Ihre ist, nur weil Sie derselben Nationalität angehören. Wenn wir unsere Enkel und Urenkel sehen, freuen wir uns über deren glückliche Kindheit und denken unwillkürlich an die eigene. Wir machen uns Gedanken darüber, warum und wieso uns die schönste Zeit des menschlichen Lebens genommen wurde: unsere Kindheit und Jugend.

Alle Einwohner unseres Dorfes Usushek wurden in einen Kuhstall getrieben, und die Soldaten der Nazi-Armee liefen um den Stall herum und riefen „Weiber kaputt“. Doch ironischerweise begann die Sowjetarmee ihre Offensive, und da hatten die deutschen Soldaten keine Lust mehr auf die unterhaltsame Einschüchterung der Zivilisten, die sie verbrennen wollten. Meine Lieben, stellen Sie sich dieses schreckliche Bild vor: Wie meine Mutter erzählte, gab es ein furchtbares Geschrei in der Scheune, die Menschen verabschiedeten sich voneinander, schrien und weinten lauthals, die Kinder weinten. Wir wurden von unseren Soldaten gerettet. Doch das war nicht das Ende unserer Qualen. Als die Leute in ihr Dorf kamen, sahen sie eine Brandstätte. Kein einziges Haus mehr, das ganze Dorf war niedergebrannt worden. Die Menschen mussten Keller graben und wie Maulwürfe jahrelang in der Erde leben. Ich war ein kleines Mädchen, aber ich werde mich immer an ein „Fenster“ erinnern, wenn man es so nennen kann: ein dreieckiges Glas, das in den Boden gerammt war und zumindest etwas Licht durchließ.

Meine Lieben, ich wünschte, ich könnte das alles vergessen, aber leider… Von Zeit zu Zeit kommt es mir mit einem Schmerz im Herzen wieder in den Sinn. Verzeihen Sie mir diese Offenheit, sie ist der Schrei meiner Seele.

Liebe Gottfried und Sibylle, Sie haben die richtige Haltung zum Leben, Sie bringen Freundlichkeit, gegenseitiges Verständnis und Mitgefühl in diese zerbrechliche Welt, also bitte, rufen Sie die Jugend immer wieder auf und drängen sie dazu, das Richtige zu tun, den Frieden zu retten, stolz auf ihr Land zu sein und sich nicht dafür zu schämen. Man sagt, dass Schönheit die Welt retten wird. Ich habe nichts gegen die Schönheit, aber es ist die Liebe, das gegenseitige Verständnis, die Freundschaft zwischen Menschen und Ländern, die Fähigkeit, einander zuzuhören und zu verstehen, die den Frieden retten wird.

Liebe Gottfried und Sibylle, vielen Dank an Ihren Verein, gute Gesundheit, Liebe, Familienglück und möge Ihre Arbeit gedeihen.

Frieden Ihrem Haus, Frieden Ihrem Land, Frieden in der Welt!

Mit Hochachtung vor Ihnen, Nelly Alekseyevna, 81 Jahre alt.

Übersetzung Karin Ruppelt