Jewgenija Moissejewna T. – Freitagsbrief Nr. 209

Odessa, Ukraine
Februar 2019

Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg

Als der Krieg begann, wohnte unsere Großfamilie in der Chersonskajastraße. Das waren meine Großmutter Ksenija Polikarpowna O. und ihre drei Töchter. Die zwei Söhne und ein Schwiegersohn waren an der Front.

[Die Töchter waren:] Meine Mutter Ljudmila, geb. 1912, Tatjana, geb. 1922, und Tamara, geb. 1925.

In unserem Haus lebten mehrere jüdische Familien, Tanja und Tamara waren mit den Mädchen befreundet. Also beschlossen die Familien, gemeinsam zu fliehen. Aber am Tag vor der Abreise wurde die jüngste, Tamara, sehr krank, sie bekam 40° Fieber, war im Delirium. Also beschloss meine Großmutter zu bleiben.

Die Mädchen gingen in den Hafen, ihre Freundinnen verabschieden. Als das Schiff „Lenin“ ablegte, wurde es bombardiert und versank.

Der Hausmeister in unserem Haus war ein Säufer. Er drohte meiner Oma: „Ich weiß, von wem du deine Enkelin hast.“ Meine Mutter musste sich mit mir versteckt halten, wir durften nicht mehr aus dem Haus. Ich durfte nicht rennen, weinen oder lachen. Nachts stellte mich meine Mutter ans Fenster, damit ich frische Luft bekam. So ging das etwa ein Jahr lang.

Eines Tages wurde der Hausmeister im Suff von einem Auto überfahren.

In der Stadt gab es oft Razzien. Die Menschen wurden zusammengetrieben und mussten sich ansehen, wie Partisanen erhängt und erschossen wurden. Manchmal gingen wir nach Slobodka, Verwandte besuchen, und mussten uns vor den Bomben verstecken. In einem Garten auf der Komsomolskaja wurden gerade Partisanen erhängt. Ich verstand nicht, was da vor sich ging. Meine Mutter versteckte mich, schirmte mich ab, damit ich nicht hinsah. Aber ich verstand nicht, was los war, und schaute zu.

Das war nicht das einzige Mal. Sie wurden erhängt und erschossen. Ich sah es immer wieder in Alpträumen, bis ich elf oder vielleicht dreizehn Jahre alt war.

T. Jewgenija Moissejewna

geb. 9. Mai 1938

Aus dem Russischen von Jennie Seitz