Jakow S. – Freitagsbrief Nr. 199

Ukraine, Tschernihiw
Januar 2018

Guten Tag, sehr geehrter Herr Radczuweit!

Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute für das neue Jahr, viel Glück und Erfolg. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme und Sorge um die Menschen, die in ihrer Kindheit Schlimmes erlebt haben, Grauen, das sich selbst nach 75 Jahren regelmäßig in Alpträumen manifestiert.

Es gibt immer weniger Zeugen des Holocaust. Die Überlebenschancen waren praktisch gleich Null. Im Gebiet Tschernihiw waren im Jahr 1995 noch 54 Menschen am Leben, die die Zeit der Okkupation überlebt haben. Das waren vor allem Kinder aus Mischehen, die von ukrainischen Verwandten versteckt gehalten wurden. Zu dieser Gruppe gehöre auch ich.

Vor dem Krieg lebte meine Familie in einem abgelegenen Dorf in Polesien, im Gebiet Tschernihiw. Als der Krieg ausbrach, am 12. Juli 1941 [sic], wurde mein Vater an die Front eingezogen, meine Mutter blieb mit mir und meinem jüngeren Bruder im Dorf zurück. Bald nach Ankunft der Besatzer wurden wir nach Tschernihiw gebracht, ins Gefängnis, wo wir bis zum Frühjahr blieben. Unsere Nachbarn aus dem Dorf versuchten, uns zu helfen, schließlich kauften sie uns frei. Der Wachmann warnte meine Mutter davor, nach Hause zurückzugehen. Unser Nachbar schickte uns in ein im Wald gelegenes Gehöft, im angrenzenden Rajon. Den Sommer verbrachten wir in einer Laubhütte. Im Herbst, als die Ungarn gegen die Partisanen kämpften, wurde das Gehöft niedergebrannt. Wir wurden in ein anderes Gehöft gebracht, wo wir den Winter 1942/43 in einem Erdloch unter den Bodendielen einer Bauernhütte fristeten, bei Lidija A. Mit dem Anbruch des Frühlings wurden wir wieder in den Wald geschickt. Die Besatzung endete im September 1943.

Ich habe mein ganzes Leben als Agronom bei einem Landwirtschaftsbetrieb gearbeitet, bin heute 83 Jahre alt, und trotzdem holen mich die Kindheitserinnerungen regelmäßig in meinen Alpträumen ein.

So waren die Zeiten – die einen retteten zum Tode Verurteilte, die anderen denunzierten sie. Unsere Mutter wurde in dieser Zeit zwei Mal zur Wache mitgenommen und heftig geschlagen, damit sie verriet, wo wir waren. Aufgrund dieser Schläge starb sie bald nach dem Krieg, sie konnte sich nicht mehr an unseren Erfolgen im Leben freuen, sich nicht um ihre Enkelkinder kümmern. Wir haben beide studiert. Haben gute Karrieren gemacht, wunderbare Kinder und Enkelkinder großgezogen, ihnen zu einer guten Ausbildung verholfen. Es tut weh, dass wir unserer Mutter nicht mehr danken konnten. Blumen auf dem Grab niederzulegen ist so wenig im Vergleich zu dem, was diese mutige Frau verdient hat.

50 Jahre lang wurde über die Tragödie des Todes von 1,5 Millionen Juden in den besetzten Gebieten der Ukraine geschwiegen. Erst in den 90er Jahren begannen zaghaft einzelne Aktivisten über die Tragödie des Holocaust zu sprechen. Nach meinem Renteneintritt begann ich, die Geschichte der Tragödie im Gebiet Tschernihiw intensiv zu erforschen, um die Orte der Massenerschießungen und die Namen der Ermordeten in das Gedächtnis der Menschen zurückzuholen. Ich habe 86 Erschießungsorte und -daten beschrieben, etwa viertausend Namen von Opfern identifiziert. Dafür musste ich zweimal das ganze Gebiet abfahren, die Erschießungsorte fotografieren, mit sehr vielen Menschen sprechen und das Material der Kreis- und Gebietsarchive studieren. Die Ergebnisse wurden 2003 in einem 450 Seiten umfassenden Buch der Erinnerung veröffentlicht. Das Buch stieß auf großes Interesse. Ich bekam Anrufe aus Deutschland, England, Polen, Israel, den USA, Argentinien und anderen Ländern. Leider interessieren sich nur Juden dafür.

Lange Zeit, solange es die Gesundheit zuließ, war ich Vorsitzender der Veteranenvereinigung der Gemeinde. Nebenbei befasste ich mich mit Begräbnisstätten von jüdischen Soldaten, die bei der Befreiung des Tschernihiwer Gebiets gefallen waren, konnte 276 Namen identifizieren, drei davon sind Helden der UdSSR. Das gesamte Material – die Begräbnisorte, Fotografien – habe ich in einem Album zusammengestellt.

Verehrter Herr Radczuweit, wir danken Ihnen noch einmal für die Spenden. Wir sind in einer schwierigen Lage. Es leben in Tschernihiw heute noch 12 Menschen, die die Okkupation überlebt haben, alle sind 80 Jahre alt und älter. Damit wir weiterleben können, sind hohe Ausgaben für Medikamente nötig. Sie helfen uns dabei. Vielen Dank.

Hochachtungsvoll

Jakow S.

Übersetzung aus dem Russischen: Jennie Seitz