Ganna Pawliwna K. – Freitagsbrief Nr. 198

Radomyshl, Ukraine
Dezember 2021

Vor dem Krieg gab es in Radomyshl Kolonien, in denen Juden, Polen, Deutsche usw. lebten. In einer deutschen Familie lebten mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter, die den Nachnamen Mut trugen. Der Sohn Ferdinand dieser Familie war mein Großvater. Mein Großvater Ferdinand heiratete meine Großmutter Eugenia, eine Ukrainerin. Sie hatten eine große Familie, acht Kinder. Mein Vater war der dritte Sohn und hieß Pavel. Da meine Mutter Ukrainerin war, brachte sie den Kindern die ukrainische Sprache bei. Vater ging nicht zur Schule, er konnte weder Deutsch noch Ukrainisch lesen und schreiben. Der Nachname Mut bedeutete jedoch, dass er deutscher Abstammung war. So heiratete also mein Vater meine Mutter, ebenfalls eine Ukrainerin.

Als der Krieg begann, hatten sie vier Kinder, und meine Mutter war schwanger. Eine Tochter war 9 Jahre alt, eine andere 6 Jahre, die dritte 4 und ich war 1 Jahr. Die Deutschen eroberten Radomyshl, ich weiß nicht genau, in welchem Monat, im Jahr 1943. Wie lange sie in Radomyshl waren, weiß nicht, ich kann niemanden fragen. Mein Vater, meine Mutter, meine ältere Schwester, meine dritte Schwester und mein Bruder sind bereits gestorben.

Unsere Hütte lag in der Nähe des Waldes, also stellten die Deutschen das gesamte Kriegsgerät in unseren Hof. In der Nähe befand sich auch eine Hütte, in der ein Ehepaar lebte, das keine Kinder hatte, und in der alle Deutschen wohnten. Als die Deutschen 1943, im November, auf dem Rückzug waren, wurden wir alle auf Pferdewagen verladen, und die Erwachsenen gingen zu Fuß. Deutsche Soldaten begleiteten sie auf Pferden am Straßenrand und am Ende. Am Himmel flogen Flugzeuge und brummten fürchterlich, alle Kinder weinten sehr.

In Zhitomir wurden wir auf einen Güterzug verladen. In einen Waggon Frauen, Kinder und Männer, in einen anderen Waggon Männer und Pferde. Unser Vater war auch dabei. Und so wurden wir sehr lange durch die Tschechoslowakei gefahren, in ein Lager, dann in ein anderes – ihre Namen und die Namen der Städte kannte ich nicht. Das dritte Lager befand sich in der Stadt Walkstub. (???). Auf dem Weg nach Waldshut bekam Mutter 1944 ihr Baby, einen Jungen. Meine Mutter arbeitete die ganze Zeit in verschiedenen Berufen, und die älteste Tochter kümmerte sich um die Kinder. Und während der ganzen Zeit, in der wir im Lager Waldstub waren, musste mein Vater für die Besitzer mit den Pferden arbeiten. Wir sahen ihn nicht wieder und wussten nicht, wo er war. Im April 1945 befreiten amerikanische Soldaten die Stadt Walkstub. Die deutschen Soldaten trieben uns alle, die im Lager waren, in einen großen Keller, der wie ein Luftschutzkeller aussah, und schlossen uns ein. Die amerikanischen Soldaten öffneten die Schlösser und ließen uns alle heraus.

Dann wurden wir wieder in einen Güterzug gesetzt und schubweise in die Ukraine transportiert. Da meine Mutter fünf Kinder hatte, wurden wir als letzte geschickt. Als wir in der Ukraine ankamen, waren die Kirschen reif. Vater war bereits zu Hause. Aber nach ein paar Monaten kamen Leute vom NKWD zu uns nach Hause und sagten, dass wir uns für 10 Jahre Verbannung auf den Weg nach Sibirien machen müssten, denn wir seien Volksfeinde, weil wir in Deutschland waren.

Wieder verluden sie uns in einen Güterzug, es dauerte lange, und es war sehr kalt. Wir wurden nach Nowosibirsk gebracht, in den Bezirk Kotshenevsky, in das Dorf Barmashovo, das etwa 15-20 km vom Bezirkszentrum entfernt war. Als wir ankamen, waren die Baracken schon voll, wir konnten nirgendwo untergebracht werden, und der Boden war bereits gefroren. Wir wurden bei Leuten untergebracht, die nur einen Sohn hatten. So überstanden wir den Frost. Wir saßen tagsüber auf unseren Sachen und schliefen nachts auf ihnen auf dem Boden. Sobald der Schnee schmolz, gruben mein Vater und meine Mutter eine 2 mal 3 Meter große Erdhütte aus. Sie stellten eine Schlafbank auf, auf der wir alle schliefen, einen Herd, um Essen zu kochen, einen kleinen Tisch, an dem wir aßen, und einen Eimer mit Wasser. Der Ofen wurde mit Schilf beheizt. Es gab keinen Wald in der Nähe, der Wald war 100 km entfernt. Als der Schnee schmolz, stand das Wasser unter der Schlafbank. Wir schöpften das Wasser und trugen es nach draußen. Im Winter waren alle Erdhütten mit Schnee bedeckt, die Nachbarn gruben sich gegenseitig aus. Wir lebten also fünf Jahre lang in der Erdhütte. Das Fenster hatte kein Glas, stattdessen hatte mein Vater eine Rinderblase auf einen Holzrahmen gezogen.

Im Jahr 1950 wurde im Dorf ein kleines Haus gebaut. Auf der einen Seite befand sich ein Laden, die andere Hälfte wurde uns zur Verfügung gestellt. Wir hatten jetzt einen Boden und Fenster mit Glas, ein Bett und einen Ofen, und es gab eine Wiege, die an der Decke befestigt war – darin wurden die kleinen Kinder geschaukelt, während alle Erwachsenen wieder auf dem Boden schliefen. Er war aber jetzt aus Holz und mit Stroh und mit allerlei alten Sachen bedeckt. In dem Dorf gab es keine einzige Krankenschwester. Und es gab einen Befehl von oben – Abtreibungen waren nicht erlaubt. Innerhalb von 10 Jahren wurden vier weitere Kinder geboren. Die Familie bestand aus neun Kindern, Mutter und Vater, insgesamt 11 Personen. Der Vater, die Mutter und die ältere Schwester arbeiteten an verschiedenen Stellen. Für die Kinder wurde ein wenig Geld gezahlt. So haben wir gelebt. Jeden Monat wurden wir vom NKWD überprüft und Mutter, Vater und die ältere Schwester mussten unterschreiben.

Als die Siedlung 10 Jahre alt war, durften wir nach Hause zurückkehren, aber keine eigene Hütte verlangen. Am 8. März 1956 kamen wir in unserer Heimatstadt Radomyshl an. Während unserer Abwesenheit war unsere Hütte verkauft worden. Wir wohnten einen Monat lang bei der Schwester meines Vaters. Dann begannen wir, aus Holz und Lehm eine provisorische Unterkunft zu bauen. Und wieder schliefen wir auf dem Boden auf Heu und Stroh.

Meine ältere Schwester hatte geheiratet und blieb in Sibirien. In Radomyshl gab es eine Kolchose, in der mein Vater als Hilfsarbeiter beschäftigt war. Meine zweite und dritte Schwester gingen als Melkerin und Schweinemagd arbeiten. Ich schloss die Schule mit der siebten Klasse ab und ging auch als Melkerin arbeiten. Ein Jahr später heirateten meine Schwestern Mein Bruder ging zur Armee, meine beiden jüngeren Schwestern und zwei Brüder gingen zur Schule.

Wir wurden immer verfolgt, weil wir Verräter waren und einen deutschen Nachnamen trugen; es war schwierig, eine gute Arbeit zu bekommen. Aber als wir eine Bescheinigung als Kriegsveteranen erhielten, fühlten wir uns erleichtert. Und die Leute begannen uns mit Respekt zu behandeln. Jetzt sind wir noch zu zweit von den fünf Kindern, die in Deutschland waren: meine zweite Schwester Zina und ich, Anna. Zinaida wurde als Kriegsversehrte anerkannt. Ich habe es nicht mehr geschafft, weil ein neues Gesetz den Titel „Kriegsversehrter“ abschaffte. Als Kriegsveteranin erhalte ich einen Aufschlag auf das Gehalt. Ich war doch ein Kind!!!?  Im Jahr 2020 betrug meine Rente 2700 Griwna.

Ich wurde schwerhörig. Ich erhielt einen Brief mit der Adresse der NRO „Gegenseitiges Verständnis und Toleranz“. Ich habe darum gebeten, mir ein Hörgerät zu schicken. Im Jahr 2021 habe ich um Binden und ein Blutdruckmessgerät gebeten. Ich bin sehr, sehr dankbar dafür.

Und meine zweite Schwester Zinaida bekam einen Rollstuhl. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ein großes, großes Dankeschön an alle, die Geld spenden und an diesem Programm mitarbeiten.

In der Ukraine gibt es keine Arbeitsplätze, unsere Ukrainer gehen dorthin, wo sie einen Job finden. Jetzt arbeiten unsere Neffen als Fahrer, unsere Nichten gehen ins Ausland. Und sie fahren durch ganz Europa: Polen, Deutschland, Schweden, alle Länder. Unsere Nichte betreut ältere Menschen in Deutschland. Und die Tochter des Bruders, die auf dem Weg nach Deutschland geboren wurde, hat einen Deutschen geheiratet und eine Tochter bekommen. So dreht sich die Erde.

Entschuldigen Sie, dass ich lange nicht geantwortet habe. Der Brief lag lange im Briefkasten. Wir haben ihn im Oktober abgeholt, die Adresse des Absenders war vom Regen verschmiert, also schicke ich den Brief an den Stempel auf dem Brief.

Wir wünschen Ihnen allen gute Gesundheit und alles Gute.

Unsere Mutter betete zu Gott, dass wir alle lebendig und gesund aus Deutschland und Sibirien zurückkommen würden. „Gott sei Dank.“ 

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarow