Diesen Brief erhielten wir 2007 über einen ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen aus der Ukraine. Er war wie viele andere in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten Hobbyhistoriker und beschäftigte sich mit den Relikten des Großen Vaterländischen Kriegs in seinem Wohnort Saporischschja. Er hielt aber auch den Kontakt zu seinen Kameraden, die wie er in den deutschen Kriegsgefangenenlagern in Norwegen gewesen waren, und sammelte Berichte von den Lagern in Norwegen. Wir konnten dem Briefschreiber, Herrn Trapicyn, 2007 unsere finanzielle Geste der Anerkennung erlittenen Unrechts übergeben.
I. Trapicyn (Stadt Moskau), Erbauer von Bunkern. Das Jahr 1941. Der Beginn des Krieges. Ich diente an der Grenze. Die Kämpfe des 22. Juni bei Brest. Ständige Geplänkel mit den Eroberern in der Einkesselung. Ich wurde verwundet, erlitt Quetschungen. Vom Zug blieben nur vier Menschen. Eine Nacht im Schuppen. Doch weiter kam das Schrecklichste, an das man nie zu denken wagte, Gefangenschaft.
Gewaltige faschistische Lager auf dem Gebiet Polens – Biała Podlaska, Dęblin … Der Typhus grassierte. Die Kranken lagen auf dem Zementboden. Es starben bis zu zweitausend am Tag…
Deutschland. Verschärftes Straflager Hammerstein Nr. 315 [in Ostpreußen]. Im November des Jahres Zweiundvierzig warfen sie den Kriegsgefangenen graue Mäntel, spitz zulaufende Helme, sog. Budjonny-Mützen und Stiefel mit Holzsohlen hin.
Transport „Hindenburg“…
Nordfinnland. Zwangsarbeit in den Sümpfen, aber dann Marsch zur norwegischen Grenze.
Fast einen Monat gingen die Kolonnen der sowjetischen Kriegsgefangenen durch den Norden Finnlands. Die Menschen schleppten sich mit Mühe durch den feuchten Schnee. Der Schlamm patschte. Die Kolonne, die sich über zig Kilometer hinzog, beschloss ein „Sonderkommando“, ein Strafkommando, das aus eingefangenen Flüchtlingen bestand.
Ich ging barfuß zwischen ihnen. Die Beine schwollen an und bluteten. Bei der Rast schnitten der Moskauer Dmitrij Iwanowitsch Ivanow, ein Bärtiger mit Spitznamen „Alter“, und Sascha Filatow aus Narwa Mäntel, Decken – fertigten mir so etwas wie Mützen an, die jedoch sofort auseinander fielen.
Ringsum, wohin du auch schaust, nackte Tundra. Lediglich irgendwo mal ein zwergwüchsiger Strauch. Der Weg führte einen Berg hinauf. Wir erblickten einen Grenzpfahl. Auf der einen Seite die Aufschrift „Suomi“, auf der anderen „Norge“.
„Ich kann nicht mehr gehen“, sagte der Moskauer Journalist Nikolaj Matwejewitsch Schelgano.
Hinten schritten die MPi – Schützen mit den Hunden. Es waren einige Schüsse zu hören. Ich drehte mich heimlich um (dies war streng verboten). Schossen sie wirklich, diese Scheusale? Ja, so war es…
20. Oktober 1944. Wir waren auf norwegischer Erde. Ringsum keinerlei Anzeichen von Behausungen. Nacktes Hochplateau. In der Ferne das Meer. Die Kräfte verlassen mich. Wie aus der Ferne erscholl die Stimme von Dmitrij Iwanow: „Igorjok, nimm dich zusammen!“
Ich biss die Zähne zusammen. Bei der Rast schleppten Freunde Steine herbei und errichteten ein Mäuerchen, hinter der wir vor dem Wind Schutz suchten. Wir mauerten ein Öfchen. Sammelten Moos. Zogen oben eine Decke drüber und krochen zu fünft hinein.
Etwa zehn Tage verbrachten wir unter freiem Himmel.
5. November. Im Tanafjord verlud man uns in einige Dampfer unter Deck. Man zwängte uns so zusammen, dass man keinen Schritt tun konnte, ohne einem Menschen auf die Füße zu treten. Es war schwül. Wir hatten Durst. Es tropfte von der Decke und wir sammelten die Tropfen in einem Kesselchen.
Abends. Inmitten des vielstimmigen Lärms erscholl die Stimme von Dmitrij: „Brüder, morgen ist der Vorabend des Oktober. Wo bleibt der Trinkwasserfuhrmann? Wir bitten ihn zu singen und zu erzählen.“
Ich stellte mich auf den Querbalken, der sich über dem Boden des Laderaums erhob. Durch die Luke sahen vom Deck die Wachposten herunter, richteten die Scheinwerfer auf mich. Alles war wie im Theater, nur die Bühne war ein Quadratmeter groß.
Dmitrij übernahm die Rolle des Conférenciers:
„Jetzt wird der Künstler – Trinkwasserfuhrmann uns mit seinem Gesang erfreuen.
Man übergab mir eine selbstgebaute Gitarre. Alles verstummte. Nur der gleichmäßige Maschinenlärm war zu hören. Ich begann meinen Auftritt mit dem Lied „Es dreht sich die blaue Kugel“, das ich auf antifaschistische Weise uminterpretierte.
Das Konzert dauerte etwa drei Stunden, bis ich völlig heiser war.
Nachts weckte mich Dmitrij und sagte: „Igorjok, wir müssen bald das Schiff verlassen. Die Gestapoleute haben uns erwischt.“
Aus Vorsicht beschlossen wir, uns zu verabschieden. Im Morgengrauen schloss sich Dmitrij der ersten Abteilung der Kriegsgefangenen an, die ans Ufer gebracht wurden.
Am siebten November bat man mich erneut aufzutreten und ich selbst war nicht abgeneigt, obwohl ich ein doppeltes Risiko einging.
„Freunde!“, sagte ich. „Ich glaube, dass dies mein letztes Konzert in Gefangenschaft ist. Den Faschisten steht die Niederlage bevor.“
Und erneut hörte man mir zu, wobei sie den Atem anhielten und die Wachposten sahen von oben durch die Luke herunter und leuchteten mit den Scheinwerfern.
Der achte November. Nachts, bei Regenwetter, brachte man uns ans Ufer und trieb uns in den Laderaum eines Schleppkahns. Durch einen Spalt sickerte Wasser. Wir legten uns an Bord nieder, wo es etwas trockener war. Es war schwer zu erkennen, wann der Tag der Nacht wich. Es goss. Man ernährte uns nicht und ließ uns nicht hinaus.
Kraftlos, im Halbschlaf lagen wir auf dem Grund des Lastkahns.
Plötzlich hörten wir ein nahes Gespräch. Eine Frau überzeugte irgendwie den Wachposten. Bald öffnete sich die Luke und der tschechische Wachposten, der von der Hitlerarmee rekrutiert worden war, rief einen von uns herbei. Während er von der Wache eine flache Kiste entgegennahm, bemerkte der hochgewachsene Ukrainer am Fallreep eine ältere Frau im Regenmantel und am Ufer in der vorabendlichen Dämmerung eine Menge Norweger. Im Lastkahn duftete es lecker nach Räucherhering. Die Kiste wurde geöffnet. Jeder erhielt einen einzelnen großen Fisch. Wir waren aber sechzig…
Die ganze Woche, während der der Tscheche Dienst tat, versorgten uns die Norweger mit Fisch. Der Tscheche sagte, dass dies die Bewohner von Brønnøysund seien.
An jedem zehnten Tag ließ man uns aus dem Kahn und führte uns durch die Stadt. Die Norweger gingen auf die Straße und legten die Hände zusammen wie zum Händedruck, hoben die Arme über den Kopf. Sie warfen Beutel mit belegten Broten und Tütchen mit Konfekt in die Kolonne.
19. November. Wir wurden in einen voll motorisierten Lastkahn verladen. Ein Sturm wütete. Die kurze Überfahrt kam uns wie eine Ewigkeit vor.
Inmitten der schmalen, langen Insel Ulvingen, die fast völlig unbewachsen war, erhob sich ein Berg. An seinem Fuß in einem finsteren, felsigen Schacht stand eine Baracke, die von Stacheldraht umgeben war. Mit Wehmut blickte ich zum in der Ferne sichtbaren gastfreundlichen Brønnøysund herüber. Am nächsten Tag befahlen uns die Wachposten am Berg Steine zu brechen.
Irgendwie stießen wir auf dem Rückweg von der Arbeit auf einen großen, gewiß gerade erst gefangenen Fisch, der quer auf dem Weg lag. Nicht selten fanden wir Fische im Lager selbst, hinter dem Stacheldraht.
Wir konnten schon erahnen, wer sich um uns kümmerte. Sonntags ging am Lager langsam ein stämmiger Bursche in einer Fischerjacke vorbei und nickte zum Gruß mit dem Kopf.
11. Mai 1945. Hurra! Wir sind frei!
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