Lissitschansk, Oblast Luhansk, Ukraine
31.08.2015
Guten Tag, liebe Freunde in Berlin!
Ich habe Ihren Brief erhalten und lese ihn seit einer Woche immer wieder und muss weinen.
Mein lieber Vater Grabowskij Anatolij Petrowitsch ist am 22. März verstorben, ohne den Tag des Sieges (den 70. Jahrestag) mitzuerleben. Jedes Mal, wenn ein Brief von Ihnen kam, freute er sich wie ein kleines Kind. Vater ist 91 Jahre und 6 Monate alt geworden. […]
Er ist bis zum Schluss in seinem Haus geblieben, hat sich nicht im Bombenkeller versteckt, hatte keine Angst: „Ich hab schon einen ganz anderen Krieg überlebt, Brüder werden sich nicht gegenseitig umbringen.“ Aber als der Beschuss losging und die Fenster durch eine Explosion herausgerissen wurden, hat er sehr geweint, sagte, das seien echte Faschisten. Sie töten die eigenen Brüder. Vater ist schlagartig krank geworden. Dank Ihnen, den Medikamenten, die Sie uns schickten, konnte sein Leben verlängert werden. Unsere Familie verneigt sich zutiefst vor Ihnen. Der Prostatakrebs begann sich bei meinem Vater auszubreiten, er hatte ständige Schmerzen. Aber er war so ein Mensch, hat nie den Mut verloren. Wir haben keine Kanalisation im Haus, die Toilette befindet sich auf dem Hof und er ging bis zu seinem Tod selbst dorthin.
Er hat uns allen viel über den Krieg erzählt. Die Erinnerung an ihn wird für immer in unseren Herzen sein. Liebe Freunde, ich weiß, ich habe kein Anrecht auf Vaters Geld, aber bitte helfen Sie mir. Vater hatte vier Kinder, jetzt leben noch zwei. Mein Sohn hat vier kleine Kinder – 2, 3, 6 und 8 Jahre alt sind die Jungs. Im Zuge der Kriegshandlungen wurden bei meinem Vater sechs Holzfenster herausgerissen, bei meinem Sohn fünf Plastikfenster. Die Nachbarn halfen Vater und mir, brachten ihre alten Fenster, setzten in ihren Häusern neue ein. Wir haben sie im September 2014 eingesetzt, aber sie passen nicht, wir haben sie mit Plastiktüten abgesteckt. Im Winter haben wir sehr gefroren. Außerdem mussten wir einen Kredit für eine individuelle Beheizung in Vaters Haus aufnehmen, 14000 Griwna. Wir haben ihn noch abbezahlen können, aber für neue Fenster haben wir keinen Groschen mehr übrig. Mein Sohn ist arbeitslos, seine Stelle wurde 2014 gestrichen. Ich bitte Sie sehr, helfen Sie mir die Erinnerung an Vater zu verewigen (einen Grabstein für ihn zu kaufen) und Fenster in seinem Haus einzusetzen, und im Haus meines Sohnes. Wenn Sie möchten, schreibe ich Ihnen im nächsten Brief, was Vater über den Krieg 1941 erzählt hat. Ich kann Ihnen Vaters Sterbenotiz von 1944 schicken, sie ist uns noch erhalten. Das erste Geld, das Sie uns damals schickten, wurde ihm von Alkoholikern gestohlen, sie haben auch seinen Orden des Großen Vaterländischen Krieges mitgenommen.
Ich bin Nina Anatoljewna, Vaters geliebte Tochter. Mein lieber Vater ist der Inbegriff der Männlichkeit in dieser Welt. Gott habe ihn selig sowie alle verstorbenen Kriegsgefangenen. Ich verbeuge mich tief.
Auf Wiedersehen, liebe Freunde. Bleiben Sie gesund.
Aus dem Russischen von Jennie Seitz