Galina Stepanovna Tsch. – Freitagsbrief Nr. 222

Belarus, Gebiet Mogiljow
18.11.2022

Sehr geehrte Bernhard Blankenhorn und Ragna Vogel!

Ich, Galina Stepanovna Tch., möchte Ihnen erzählen, wie wir den Krieg nach dem Abbrennen des Dorfes überlebt haben. Ich wurde vor dem Krieg, im Jahr 1936, geboren und lebte mit meinen Eltern und meiner Schwester im Dorf Z., Kreis Klitchewskij, Gemeinde Dubno, Gebiet Mogiljow.

Der Krieg begann, und mein Vater, Stepan Sergeyevitch K., zog in den Krieg, und nach einiger Zeit, noch im selben Jahr, 1941, kam die Nachricht, dass er vermisst war. Wir versteckten uns im Wald vor den Besatzungssoldaten, und unser Dorf und unsere Häuser wurden niedergebrannt. Wir zogen durch Wälder, wohnten in Erdhütten, sammelten Beeren und Pilze, manchmal halfen uns Partisanen.

Als die lang ersehnte Befreiung kam, wussten wir nicht, wie wir leben und wohin wir gehen sollten: Unser Vater war verschwunden, wir hatten kein Zuhause mehr, unsere Tante Marina und unser Onkel Vasil waren gestorben – sie wurden erschossen, weil sie Kontakt zu den Partisanen hatten. Und unsere Mutter blieb mit zwei kleinen Kindern auf dem Arm zurück – meine Schwester wurde im Frühjahr vor dem Krieg geboren. Der Krieg endete, als ich war 9 Jahre alt war, meine Schwester war 4. Es gab keinen Platz zum Leben. Zuerst waren wir in einer Erdhütte, dann lud uns eine Familie ein und gewährte uns Unterschlupf, bis freundliche Menschen uns halfen, unser eigenes kleines Haus zu bauen. Wir hatten keine Dokumente, alles war weg. Als ich einen Reisepass erhielt, waren die Daten darin die Angaben, die meine Mutter aufgeschrieben hatte.

 Unsere Mutter arbeitete in der Kolchose. Meine Schwester und ich können bis heute die Kälte, den Hunger, die Flucht vor den Besatzern nicht vergessen, wie wir aus Angst um unser Leben sehr weit in den Wald gingen. Wir haben nicht genug gegessen und nicht genug geschlafen, nicht nur während des Krieges, sondern auch danach. Es gab immer einen Mangel an Lebensmitteln, die nirgendwo zu bekommen waren. Nur Gott weiß, was es uns gekostet hat, zu überleben und weiterzuleben, unsere Tränen hinunterzuschlucken, die Zähne zusammenzubeißen, die Fäuste zu ballen und zu leben, zu studieren und zu arbeiten.

Wir, die Überlebenden dieses Krieges, können der heutigen Generation der deutschen Bürger keine Schuld geben. Ja, sie schämen sich für ihre damaligen Wehrmachtssoldaten, die in diesem blutigen Krieg gekämpft haben, für all die Gräueltaten, die sie begangen haben, und die bestraft wurden. Aber niemand weiß, was oder wer sie dazu gebracht hat, in den Krieg zu ziehen. Wir, die überlebenden Belarussen, wollten und wollen nur Frieden und Gutes für alle Menschen auf dem Planeten. Wir sind gegen Grausamkeit und das Böse. Wir lehren die junge Generation, ihr Vaterland zu lieben und sich daran zu erinnern, dass unsere Väter und Großväter für uns gestorben sind, um den Tag der Freiheit näher zu bringen. Das wird nie vergessen. Meine Schwester und ich wissen nicht einmal, wo das Grab unseres Vaters ist, wo wir Blumen hinbringen könnten. Wie können wir diesen Schmerz vergessen?

Die Mitglieder Ihres Vereins tun das Richtige, indem sie der heutigen Generation die Schrecken des Krieges erklären. Als ältestes Mitglied unserer Familie erteile ich Ihnen die Erlaubnis, meinen Brief als Geschichts-Dokument, für die Erinnerung zu veröffentlichen. Wir sind Kinder des Krieges, es gibt nur noch sehr wenige von uns, wir bitten euch: Wiederholt nicht die Fehler eurer Vorfahren, wählt einen guten Weg, damit sich auch eure Kinder nicht für euch schämen müssen. Aber wer entschädigt uns nicht nur für die niedergebrannten Dörfer, sondern auch für die verkrüppelten Schicksale vieler Kriegskinder?

Hochachtungsvoll,

Galina Stepanovna Tch.,

18.11.2022                                   

 Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt und Igor Makarov