Antonina Leontevna M.– Freitagsbrief Nr. 223

Gebiet Lwiw, Ukraine
November 2022

Anmerkung: Wolhynien und das Gebiet um Lwiw (oder Lwow oder Lemberg) waren 1922 nach dem Sieg Polens über die Sowjetunion von Polen annektiert worden. Es ist nicht sicher, ob die Briefschreiberin tatsächlich im KZ Mauthausen oder in einem Zwangsarbeiterlager war. Die erwähnten Medikamente und Staroperation wurde von unseren Spenden bezahlt.

Sehr geehrte Bernhard Blankenhorn und Ragna Vogel,

ich, Antonina M., eine ehemalige minderjährige Gefangene der deutschen Konzentrationslager, behinderte Veteranin des Zweiten Weltkriegs, wurde am 06.03.1943 in Warschau geboren.

Im Jahr 1937 zogen meine Eltern von Lwiw nach Warschau. 1944, während des Polen-Aufstands, den die Deutschen niederschlugen, wurde unsere Familie – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester Sophia (8 Jahre alt) und ich, Antonina (ich war damals 1,5 Jahre alt) – von den Deutschen in einem Güterwaggon nach Österreich ins Konzentrationslager Mauthausen abtransportiert.  Mein Vater nahm mich kleines Mädchen an sich und sagte, dass meine Mutter getötet worden sei. Und so wurde er zu den Alten und Frauen mit Kindern gesteckt. Dann nahmen sie ihn mit – sie wuschen ihn und rasierten alle seine Körperhaare ab, denn die Deutschen hatten große Angst vor Typhus, und wir dachten schon, er würde in der Gaskammer umgebracht. Aber er kam in einem gestreiften Hemd mit einer Nummer darauf zurück. Sie wollten nur meinen Vater zu einer Arbeitsstelle mitnehmen, aber er sagte, er habe eine Frau und zwei Kinder, aber mit Familie wollte ihn niemand haben.

Wir blieben 2 Wochen in Mauthausen, dann wurden wir in das Konzentrationslager Arosmister [?] verlegt, wo wir bis 1945 blieben, als wir von amerikanischen Truppen befreit wurden. Meine Mutter war bei uns, während mein Vater beim Bauern Spitz arbeiten ging und nachts ins Lager kam. Wenn er etwas zu essen für uns Kinder bekam, wurde ihm am Tor alles weggenommen.

Mein erstes Wort war „essen“ [Original deutsch, mit kyrillischen Buchstaben]. Wenn das Signal zum Essen erklang, und ich war die Kleinste, nahm ich ein Aluminiumschüsselchen und einen Löffel, stellte mich vor alle anderen, klopfte und rief „essen-essen“. Wir wurden sehr schlecht verpflegt.

Im Jahr 1945 wurde unser Lager von amerikanischen Truppen befreit, die uns besser behandelten. Aber ab Mai 1945 lebten wir immer noch im Lager und blieben dort für weitere 3 Monate, bis der Krieg mit Japan begann. Im August 1945 wurden wir nach Warschau geschickt, aber dort war alles zerbombt, unser Haus war weg, nur noch Ruinen. Mein Vater beschloss, in seine Heimatstadt Lutsk zurückzugehen, wo er geboren wurde. Von Warschau aus wurden wir zur Filtrations-Station in Rawa Ruska und von dort nach Lutsk geschickt. Unsere Filtrationsunterlagen befinden sich im Regionalarchiv in Lutsk für das Jahr 1945, wo man uns bescheinigte, dass wir zur Zwangsarbeit in ein Konzentrationslager abtransportiert worden waren.

Die Nachkriegsjahre waren sehr, sehr hart, man konnte nirgendwo wohnen, es gab keine Arbeit. Wir gingen in die umliegenden Dörfer und bettelten um Essen. Wir hatten vier Fotos mit amerikanischen Soldaten aus dem Konzentrationslager Arosmister, ich erinnere mich noch daran: Ich sitze auf der Schulter eines Soldaten, und meine Schwester steht neben mir, aber mein Vater verbrannte sie, weil er Angst hatte, dass wir wegen der Fotos nach Sibirien verbannt werden könnten.

1979 hatte ich das Glück, an einer Tour durch Warschau teilzunehmen, bei der mir ein Dokumentarfilm über die Bombardierung Warschaus gezeigt wurde, und unser Führer, Herr Adam, führte mich zu dem Haus in der Grzybowska-Straße 12, in dem ich 1943 geboren wurde.

Im Jahr 1959 machte ich meinen Abschluss an der Mittelschule Nr. 9 in Lutsk. 1966 schloss ich mein Studium an der Medizinischen Fachhochschule in Lutsk ab. Von 1966 bis 2012 arbeitete ich als Krankenschwester im zentralen Regionalkrankenhaus von Lutsk. Jetzt bin ich Rentnerin und habe zwei Söhne: Alexander und Yurij, vier Enkelkinder und zwei Urenkel. Mein Mann starb 1993.

Ich bin Mitglied des eingetragenen Vereins „Häftlinge – Opfer des Nationalsozialismus“ in Lutsk. Es sind nur noch wenige von uns übrig, aber wir treffen uns noch und machen zusammen Ausflüge.  Die Organisation „Gegenseitige Verständigung und Toleranz“ hat mir sehr geholfen mit Medikamenten und mir auch Star-Operationen beider Augen bezahlt, wofür ich sehr dankbar bin. Jetzt wird meine Gesundheit mit jedem Jahr schlechter. Jedes Jahr bin ich ein- bis zweimal zur Behandlung in der Kardiologie im Wolynsker Krankenhaus für Kriegsveteranen. Ich habe Probleme mit der Wirbelsäule und kann schlecht gehen. Ich wohne im eigenen Haus mit meinem älteren Sohn. Nicht weit von mir wohnt meine ältere Schwester, sie ist schon 86. Ich habe ein Tastentelefon, deshalb kann ich keine Fotografie über Viber schicken.

Bei uns ist jetzt Krieg und nun bedroht uns aus Belarus‘. Wir beten alle für den Frieden und das baldige Ende des Krieges, für unseren Sieg.

Hochachtungsvoll

Antonina Leont’ewna M.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt und Igor Makarov