Belarus, Gebiet Mogiljow
März 2018
Ich Wassilij Semjonowitsch Tsch., geboren am 30. 5. 1937, berichte:
In den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als die deutsche Armee unser Dorf Ostrovy … im Gebiet Mogiljowsk in Weißrussland einnahmen, begannen grausame Repessionen der dort lebenden Menschen. Die Dorfbewohner gingen in ganzen Familien in die umliegenden Wälder und versteckten sich in Erdhöhlen, Geheimgängen usw.
Die 7 Mitglieder unserer Familie gingen auch in den Wald und versteckten sich so gut sie konnten. Die Strafeinheiten der Deutschen warnten in ihren Anordnungen (Flugblättern) davor, in die Wälder zu gehen. Diese durchkämmten sie auf der Suche nach Partisanen. Einmal blieb ein deutscher Soldat mit einer Waffe über unserem Geheimgang stehen. Wir sahen seine Stiefel und seine Waffe durch einen Spalt – uns blieb fast das Herz stehen. Aber er ging weg.
Von der Familie von Afanas Nosow (er war an der Front) wurden alle 5 Personen erschossen. Da führte mein Vater unsere ganze Familie nachts aus dem Wald heraus in ein leer stehendes Gehöft am Rand des Dorfes. Die Deutschen kamen bald dahinter und holten ihn zum Verhör in die Kommandantur ab. Aber als sie feststellten, dass er kein Partisan war und eine Familie von 6 Personen hat, blieb er am Leben, ebenso wie unsere ganze Familie, Vater, Mutter, die Schwestern Nina, Tatjana, Alexandra, und mich, den Kleinen trieben sie 3 km zu Fuß in das Lager Wolkowitschy hinter Stacheldraht. Im Lager blieben wir ziemlich lang. Die Schwestern wurden zu verschiedenen Arbeiten im Lager herangezogen.
Dann begann man im Lager die Insassen zu aufzuteilen. Einige wurden nach Deutschland getrieben, einige in andere Lager. Mich und meine kleine Schwester Alexandra, Vater und Mutter trieben sie in der Hitze zu Fuß in das Dorf Suschtschew im Kreis Byhowsk, wo wir im Haus von Uljana Treskatnewa untergebracht wurden. In diesem Dorf, wie in vielen anderen auch, hungerten die Leute, und wir auch. Meine Schwestern Ewa, Tanja, Nina machten Hilfsarbeiten: Kühe melken, Wäsche waschen, Geschirr abwaschen und im Winter Schnee räumen und vieles andere.
Im Dorf Suschtschew nahmen sie uns den Vater und zwangen ihn, als Pferdeknecht zu arbeiten (weil sie festgestellt hatten, dass er in der zaristischen Armee Husar gewesen war). Er musste mit dem Pferdewagen Wasser holen, Holz schlagen und zu Brennholz zerhacken usw. Als wir mit unserer Mutter allein blieben, begannen furchtbare Zeiten. Wir hatten weder Brot noch Salz, sammelten auf den Feldern faule Kartoffeln, und als der Winter kam, gingen wir betteln. Einmal gingen wir in ein Haus, in dem Deutsche wohnten. Meine Schwester half dort beim Geschirr-Abwaschen und beim Putzen. Sie gaben uns einen halben Laib Brot und Essensreste. Etwas später wollten wir etwas zum Essen verdienen und gingen wieder zu ihnen, aber schon in einiger Entfernung kam ein Gendarm uns entgegen in der schwarzen SS-Uniform und zielte mit der Waffe auf uns. Wir erschraken und liefen zurück, aber er schoss nicht. Meine Schwester wurde danach krank, konnte nicht mehr laufen und stützte sich an der Wand ab. So fingen die Krankheiten an: Typhus, Masern, Erkältungen, – die Erinnerung daran, wie wir überhaupt überlebten, ist ein Graus. Aber wir hielten uns bis zur Befreiung.
Meine Schwestern erzählten, dass sie für die Deutschen bis zum Beginn der Schlacht um Weißrussland arbeiteten (Operation Bagration). Als die Kämpfe begannen und danach der Rückzug der Deutschen, gerieten sie in das Kampfgebiet, blieben durch ein Wunder am Leben, verloren einander und kamen 1944 in das Dorf Ostrowy zurück. Als unser Vater Semjon nach Kriegsende auf dem Weg ins Dorf hinter einem Pferdefuhrwerk herging, trat das Pferd auf eine deutsche Panzerabwehrmine, und alles wurde in Stücke gerissen. Mein Vater wurde schwer verletzt und ein Splitter schlug ihm ein Auge aus. Er erhielt keinerlei Wiedergutmachung. Die Dörfer Ostrowy, Kopani, wo die Gulenkows lebten, die Verwandten unserer Mutter, wurden von den Deutschen beimRückzug in Brand gesteckt. Nach dem Krieg wohnten wir zuerst in Erdhöhlen, später bauten wir einHaus. Aus unserer Familie sind heute nur noch meine Schwester Nina und ich am Leben.
Mamas Bruder Arhip, geboren am 15. 2. 1887, findet sich in der Liste der nach Deutschland Verschleppten unter der Nummer 837696 auf der Website „Sächsische Gedenkorte“.
Einer meiner Brüder, Afanasij Semjonowitsch Tsch., geboren 1923, ist vermisst, und bis heute weiß die Familie nicht, wo er umgekommen und begraben ist.
Übersetzung aus dem Russischen Karin Ruppelt