Vera (Renata) Dmitrievna K. – Freitagsbrief Nr. 167

Rivne, Ukraine

März 2021

Sehr geehrte KONTAKTY/KONTAKTE,

ich danke Ihnen für Ihren Brief und für Ihr Interesse an meinem Schicksal.

Mein Schicksal war kein einfaches, aber vielleicht kann ich mit Ihrer Hilfe einige seiner Einzelheiten klären.

Ich wurde 1944 in Deutschland geboren. Mein ganzes Leben lang kannte ich mein genaues Geburtsdatum nicht, sondern nur das Jahr. Aber vor ein paar Jahren erhielt ich Dokumente, in denen steht, dass ich am 06. März 1944 in M. auf dem Hof „Gut A.“ geboren wurde. Bei meiner Geburt gab man mir den Namen Irena-Renata. In der Rubrik „Vater“ fehlte der Eintrag, meine Mutter hieß Olga.

Auf die Nachfrage meines Enkels erhielten wir die Mitteilung, dass meine Mutter mit mir am 27. April 1944 ins Nachbardort L. umzog.

Mein ganzes Leben lang wusste ich also darüber nichts, und das ist das Schrecklichste. Jedenfalls hat das mein Leben als Vollwaise sehr verfinstert, da meine Mutter praktisch direkt nach dem Krieg starb. Sie starb, nachdem sie mit dem zweiten Kind schwanger hierher zurückkam und hier meine Schwester Anna gebar.

Ja, meine Mutter kam aus Deutschland und war schwanger mit dem zweiten Kind – meine jüngere Schwester ist im Jahr 1946 geboren. Meine Schwester und ich kannten unseren Vater nicht, und zu jener Zeit war das ein großes Problem.

Wie gesagt, erhielt ich zuerst den Namen Renata, und als ich hier ankam, sprach und verstand ich eine Zeitlang nur Deutsch. Deshalb wurde ich in unserem Dorf K. (früher P.) oft „Deutsche“ genannt.

Unsere Mutter starb ziemlich bald nach der Geburt meiner Schwester Anna an Lungenentzündung und Unterernährung. Wir wurden von unserer Großmutter aufgezogen, und unser Leben verlief – milde ausgedrückt – nicht einfach. Meistens hungerten wir, außer auf unsere Großmutter konnten wir nur auf uns selbst und auf Gott rechnen. Ich will diese Zeiten nicht beschreiben: es ist sehr schwer, sich viele Momente und Situationen ins Gedächtnis zu rufen.

1957 wurde ich ins Kinderheim (Internat) aufgenommen. Zu allen kamen wenigstens ab und zu Verwandte, aber ich hatte praktisch niemanden. Die Großmutter ist auch bald gestorben.

Nach dem Internat besuchte ich ab 1961 die medizinische Fachschule und träumte nach dem Abschluss vom Besuch der Abendschule in der Medizinischen Hochschule, aber 1965 wurde die Abendschule geschlossen. Ich war allein und musste mich von dem Traum einer medizinischen Hochschul-Ausbildung verabschieden.

1965 heiratete ich Yurij K.. In meinem auch nicht einfachen Familienleben gab es viele gute Momente: ich bekam 1966 und 1977 zwei Söhne und begann außerdem 1973 die Ausbildung an der Biologischen Fakultät der Universität L’viv, die ich 1978 abschloss. Diese Ausbildung verhalf mir dazu, Labor-Fachärztin zu werden und sogar die Labor-Abteilung in unserem Eisenbahner-Krankenhaus (jetzt Städt. Krankenhaus Nr. 2) zu leiten. Leider kam es dazu, dass ich mich von meinem Mann trennen musste. Das war 1985, und 1996 km er tragisch ums Leben.

In meinem Leben gab es viel Unschönes, viel Arbeit und wenig Erholung. Jetzt, nach 58 Jahren Arbeit habe ich eine Pension von 170 Euro, deshalb bin ich Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe und Unterstützung. Es ist nämlich so, dass mein Herz infolge all dessen, was ich erlebt habe, zu „schwächeln“ begann, schon vor dem 50. Geburtstag. Zwischen 1993 und 2017 erlitt ich 4 Infarkte und 2018 bestanden die Ärzte darauf, mir einen Bypass zu legen. In der Ukraine ist diese Operation und die folgende Rehabilitation sehr teuer. Deshalb danke ich Ihnen für Ihre Medikamenten-Hilfe.

Leider starb meine Schwester Anna 2016 nach einem Infarkt. Das ist für mich ein großer, nicht wieder gut zu machender Verlust. Sie erfuhr also nicht, dass unsere Mama, Olga S., die 1941 zum Arbeiten nach Deutschland verschleppt wurde, dort in M. auf dem „Gut A.“ lebte und arbeitete. Irgendwo dort war unser Vater. Wer er ist, wissen wir nicht. Ich erzählte das ganze Leben lang, dass mein Vater Dmitrij Pe. heißt, und dass er auch nach Deutschland verschleppt wurde. Aber die echte Wahrheit ist mir unbekannt.

Mir habe ich den Namen Vera gegeben, so nannte mich meine Großmutter. Aber:

Wieso sprach ich Deutsch, als ich aus Deutschland hierherkam? Warum hatte man mir bei der Geburt den Namen Renata gegeben, der in der Ukraine nicht vorkommt? Warum ist meine Mutter auf einer der Fotografien, die sie mitgebracht hat, mit einem Kinderwagen und nicht schlecht gekleidet zu sehen? Das war doch eher nicht typisch für die nach Deutschland Verschleppten. In meinem Schicksal gibt es viel Unklares, insbesondere in der deutschen Periode, meiner Geburt und der ersten Lebensjahre.

Wenn Sie etwas mehr in Erfahrung bringen können über die Lebensumstände meiner Mutter und darüber, wer mein Vater sein könnte, bin ich Ihnen natürlich sehr dankbar.

Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Hilfe und für Ihr Interesse an meinem Schicksal. Und auch dafür, dass Sie der Ukraine Frieden wünschen. Das ist sehr wichtig.

Vielen Dank!

Ich lege diesem Brief einige Dokumente und Kopien von Fotos bei. Sie können sie, ebenso wie meinen Brief, sehr gern benutzen und veröffentlichen.

Mit den besten Wünschen

Vera (Renata) K. (Unterschrift)

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt