Anna Ivanovna S. – Freitagsbrief Nr. 166

Ukraine, Gebiet Rowno

Guten Tag, sehr geehrte Vertreter des Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI!

Lange Zeit konnte ich mich nicht dazu bewegen, mich hinzusetzten und Ihren Brief zu beantworten. Ich habe ihn mehr als einmal gelesen und ich danke Ihnen für die Aufrichtigkeit, mit der er geschrieben wurde. Und obgleich alles, was ich unten geschrieben habe, mit Erinnerungen verbunden ist, die Aufregung und Angst verursachen, konnte ich Ihren Brief nicht ohne Antwort lassen. In der Tat muss die Erinnerung daran, was während dieses schrecklichen und inzwischen schon so fernen Krieges geschah, von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, sodass Menschen, die in verschiedenen Ländern leben, miteinander kommunizieren. So darf keine Fremdheit oder Hass aufeinander in ihrem Leben sein, das bedeutet, dass es keinen Krieg geben darf, noch nicht einmal Gedanken daran.

Ich war viereinhalb Jahre alt, als meine Mutter – S. Olga Sergeevna, ich, mein Bruder Viktor und meine Schwestern Sinaïda und Olga nach Deutschland verschleppt wurden. Wir lebten damals in der Stadt Djatkowo im Gebietst Brjansk. Zu der Zeit war unser Leben ziemlich komfortabel: Wir hatten zwei Häuser, Großvater und Großmutter lebten mit uns zusammen, mein Vater war im Krieg.

Zuerst, als die Deutschen die Stadt erreichten, begann Artilleriebeschuss. Wir bekamen Angst und rannten in den Gemüsegarten, um uns hinter der Außentoilette zu verstecken. Und direkt an der Tür der Toilette fiel mein Großvater, getroffen von einem Geschoss. Nachdem wir eine Zeit dort geblieben waren, krochen wir nach Hause. Und erst spät am Abend konnte meine Mutter den Nachbarn Bescheid sagen, die uns halfen, unter den Fenstern unseres Hauses ein Loch auszuheben und unseren Großvater dort zu begraben. Es war doch unmöglich, nach draußen zu gehen, weil man Gefahr lief, beschossen zu werden

Ich weiß nicht, wieviele Tage vergingen, aber meiner Meinung nach war es morgens. Meine Mutter rief aufgeregt, dass wir schnell etwas zum Anziehen greifen sollten und auf die Straße laufen. Überall auf der Straße waren bewaffnete Deutsche und trieben uns mit den Rufen: „schnel-schnel“ [Original Deutsch mit kyrillischen Buchstaben d.Übers] in einer Kolonne zum Bahnhof. Wir wurden alle in Güterwagen ohne Fenster gepfercht. Es war ein Halbdunkel und kalt, meine Mutter legte etwas auf den Wagenboden und wir kauerten uns aneinander und an die Wand, saßen stumm und verstanden nicht, was vor sich ging. Dann wurde die Tür des Waggons mit einem lauten Knall geschlossen und der Zug fuhr ab.

Anfangs war eine tödliche Stille im Waggon. Dann konnte man Flüstern hören: Die Insassen des Waggons begannen sich leise gegenseitig zu fragen, wohin sie gebracht würden. Einige äußersten schreckliche Mutmaßungen, von denen wir Kinder ziemlich verängstigt wurden: Sie sagten, dass wir in Todeslager kämen. Andere sagten, dass wir zur Zwangsarbeit gebracht würden. Alle blieben im Dunkeln.

Ich weiß nicht, wie lange wir fuhren.  Aber ich erinnere mich sehr gut daran, wie unser Zug irgendwo schon in Deutschland anhielt.  Die Tür öffnete sich und die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne drangen in den Waggon. Wir Kinder eilten sofort zur Tür und erblickten einige Frauen. Man konnte sehen, dass sie zu unserem Zug liefen. Es waren deutsche Frauen. Nach einigen Minuten sahen wir, dass zwei von ihnen zwei Kinder an der Hand vom Zug wegführten. Im Zug wurde geflüstert, dass diese Frauen angerannt waren, um die Kinder zu nehmen und so zu retten. Alle Menschen im Zug fuhren ja in vollkommener Ungewissheit, viele dachten, wir führen in den Tod. Deshalb übergaben Menschen ihre Kinder diesen Frauen, damit wenigstens ihre Kinder in Sicherheit wären.

Bald startete der Zug wieder und wir fuhren weiter. Wir waren noch sehr jung, wir wollten spielen und wir empfanden nicht den ganzen Schrecken, den meine Mutter empfand. Beim Spiel fingen wir an, laut zu werden, und unsere Mutter konnte uns nur ruhig bekommen mit den Worten, dass sie uns bei der nächsten Station auch abgeben würden, wenn wir uns nicht ruhig verhalten würden.

Bevor wir nach Giengen kamen, wurden wir zu verschiedenen Städten gebracht, darunter auch München. Einige vollkommen zusammenhangslose Fragmente tauchen in meinen Erinnerungen auf (ein großer Platz mit Menschen aus einem Zug, die Dinge in Stoffbündel geknotet tragen; ein zweistöckiges Gebäude, in dem eine große Zahl Menschen auf dem Boden schliefen; eine Art Feld und Gärten mit Lagerfeuern und Erwachsenen kochten Früchte aus einem nahe gelegenen Garten in gusseisernen Töpfen, um etwas zu Essen zu haben und den Kindern Essen zu geben…).

Dann erinnere ich mich, wie wir zur Stadt Giengen gebracht wurden und in riesigen Baracken untergebracht wurden. Mein Bruder wurde auf der Stelle meiner Mutter weggenommen und zu einem Bauern gebracht, um sich um das Vieh zu kümmern. Wie sich später herausstellte, musste er mit dem Vieh zusammenleben. Er war vollkommen krank, als meine Mutter ihn nach der Befreiung aus dem KZ fand.

Meine ältere Schwester Sinaida wurde zur Arbeit in einer Fabrik gebracht und meine Mutter auch. Sie mussten irgendwelche Metallteile an Maschinen drehen. Ich und meine ältere Schwester Lydia – sie war damals 6 – blieben bei den Baracken. Wir spielten mit den anderen Kindern, und wenn wir Wachen mit schwarzen Uniformen mit Armbinden und spiegelblank polierten Stiefeln sahen, verkrochen wir uns unter den Betten und blieben da, bis sie wieder weg waren. Die Etagenbetten waren dreistöckig, soweit ich mich erinnere, vielleicht auch zweistöckig, das ist jetzt schwer zu erinnern. Jeden Morgen kamen drei Wächter in die Baracken und prüften, ob alles in Ordnung war.

Vor den Treppenstufen zur Baracke war eine Art Graben. Ich erinnere mich, wie wir eines Tages durch eine Ritze in der Tür einen komplett nackten jungen Mann, der im Graben stand, sich vornüberbeugte und versuchte, seine Blöße mit den Händen zu bedecken. Und rechts vom Graben waren mehrere Wachleute, die kaltes Wasser aus einem Schlauch mit einem Metallteil auf ihn spritzten und lachten. In der Nähe war ein Feuer, auf dem seine Kleidung und sein Bettzeug verbrannt wurden, wie die Erwachsenen später erzählten. Ich weiß nicht, was dann mit diesem Mann geschah, weil meine Mutter uns von der Barackentür wegzog.

Ich erinnere nicht viel mehr über das Leben in den Baracken.

Als wir 1945 befreit worden waren, kamen wir mit dem Zug nachts in Brjansk an und übernachteten im Bahnhof. Ich erinnere nicht, wie wir in unsere Heimatstadt zurückkamen. Wir kamen zu Hause an und an Stelle unserer beiden Häuser fanden wir Asche. Die Stadt war fast vollständig abgebrannt, denn zu der Zeit waren die Häuser hauptsächlich aus Holz. Einige Tage lebten wir auf der Straße bis Bekannte meiner Mutter uns Obdach in ihrer Scheune gaben, wo sie selber auch lebten, weil auch ihr Haus abgebrannt war.

Und dann wurde meine älteste Schwester gefunden – Vera, die zu der Zeit in der Ukraine lebte und in einer Brennerei arbeitete (wir hatten einen großen Altersunterschied, ungefähr 15 Jahre, und als wir nach Deutschland verschleppt wurden, war sie nicht bei uns. Soweit ich weiß, studierte sie und war in einer anderen Stadt). Und wir zogen in die Ukraine, wo wir fast unser gesamtes Leben gelebt haben.

2015 starb mein Ehemann. Und vor zweieinhalb Monaten habe ich meinen Sohn begraben, der erst 54 Jahre alt war. Ich bin die ganze Zeit krank – ich habe vier Schlaganfälle erlitten und bin am Leben Dank der Pflege durch meine Tochter. Ich bin natürlich dankbar für Ihre wiederholte Hilfe in dieser nicht so leichten Zeit.

Und quälen Sie sich nicht vor Reue wegen der Verbrechen, die Ihre Großväter und Urgroßväter begangen haben, weil die gegenwärtige Generation dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Wir müssen uns gegenseitig vergeben und alles was möglich ist tun, damit niemand jemals wieder die Schrecken des Krieges erleben muss.

Was mich betrifft, bin ich sehr dankbar für Ihren Brief, für Ihr aufrichtiges Bedauern über das, was zwischen unseren Vorfahren im letzten Jahrhundert vor vielen Jahren geschehen ist, für Ihr Erinnern, dafür, dass Sie Ihre Kinder lehren, sich dazu menschlich zu verhalten, damit in Zukunft nie mehr so etwas wie zwischen 1941-1945 passiert. Ich bin Ihnen dankbar für die moralische, materielle und einfach menschliche Unterstützung, denn es sind so viele Jahre vergangen….

Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Ihrem Land Frieden und Wohlstand.

Diesen Brief hat meine Tochter Svetlana nach meinem Diktat geschrieben, , weil es mir schwer fällt, selbst zu schreiben wegen meiner schlechten Gesundheit und Sehschärfe. Und natürlich habe ich nichts gegen die Veröffentlichung meines Erzählung.

Mit Hochachtung

Anna Ivanovna S., geboren 1939

Ukraine, Gebiet Rowno

Februar 2021

Übersetzung aus dem Russischen: Sibylle Suchan-Floß