Tatiana Grigorjewna K. – Freitagsbrief Nr. 232

Belarus, Bobuysk

Mai 2023

Sehr geehrter Bernhard Blankenhorn und Ragna Vogel,

mein Name ist Tatiana Grigorjewna K. und ich wurde im Januar 1942 in Perekol, Bezirk Klichevsk, Weißrussland geboren. Ich habe über die Stiftung „Gegenseitige Verständigung“ einen Geldbetrag erhalten, und dann bekam ich einen Brief von „KONTAKTE“, der mich zutiefst berührte.  Besonders unerwartet war, dass sich die heutigen Deutschen nicht nur der Tragödie der Belarussen bewusst sind, die sich vor 80 Jahren ereignet hat, sondern dass sie ihr Bestes tun, um die Informationen darüber im Gedächtnis der Deutschen zu bewahren.

Als der Krieg begann, war meine Mutter Elena R. 31 Jahre alt, mein Vater Grigory Leonovich – 33. Sie hatten drei Kinder: 13 und 10 Jahre alt, und im Januar 1942 wurde ich geboren.  Mein Vater ging an die Front.

Ich möchte Ihnen zwei Begebenheiten aus meinem Leben erzählen, die sich während des Krieges ereigneten:

1. Frühjahr/Sommer 1942.  Zu dieser Zeit rückten die Deutschen vor, und viele weißrussische Dörfer wurden bombardiert. Ich war zwischen 3 und 6 Monaten alt. Meine Mutter und die älteren Kinder arbeiteten auf den Feldern, und ich (ein Säugling) wurde allein im Haus gelassen. Als unser Dorf bombardiert wurde, rannten alle Menschen in den Wald. Die älteren Kinder und die Kühe wurden gerettet, weil das die Ernährung ermöglichte. Sie kamen nicht zurück, um mich zu holen, denn es war vor allem nachts kalt und ein kleines Kind konnte im Wald nicht überleben, außerdem war es unmöglich, während des Bombardements ins Dorf zurückzukehren. Die Bombardierung dauerte sehr lange. Nach den Worten meiner Mutter kehrten sie dann nach anderthalb/zweieinhalb Tagen ins Dorf zurück.

Als die Leute aus dem Wald ins Dorf kamen, sahen sie mit Entsetzen, dass das Dorf verschwunden war. Alle Häuser waren bombardiert worden und waren niedergebrannt. Vor der Bombardierung gab es 90-95 Häuser im Dorf. Nach der Bombardierung waren nur noch fünf relativ intakte Häuser übrig. Unseres eingeschlossen. Meine Mutter erzählte mir, dass ich weinte, als sie die Tür öffnete, und sie erkannte, dass ich noch lebte, obwohl ich schon sehr lange ohne Wasser und Essen gewesen war.

Meine Cousine war tatsächlich im Sumpf verschwunden. Das kam, weil die Menschen vor den Nazis in großer Angst geflüchtet waren. Dann haben andere Dorfbewohner sie gefunden und auch sie hat überlebt. Und wie viele Menschen und vielleicht auch Kinder starben bei diesen Bombenangriffen.

2. 1943 war der zweite Vorfall. Genauer kann ich es Ihnen nicht sagen. Meine Mutter hatte einen Bruder, Alexej Fjodorowitsch Siwatschew. Er schloss sich den Partisanen an. Damals zog sich der Krieg in die Länge, und die belarussischen Partisanen trugen wesentlich dazu bei, dass es für die Faschisten                 nicht so leicht war, in unser Land vorzudringen. Deshalb ordnete das deutsche Kommando eine Strafaktion in Weißrussland an. Alle, Ehefrauen, Kinder, Verwandte der Partisanen, sollten erschossen werden. Die Deutschen kamen zu unserem Haus und nahmen sofort meine Mutter, mit mir in den Armen, als Schwester eines Partisanen mit. Als wir zur Hinrichtung geführt wurden, nahm ein Einheimischer, der als Polizist [Kollaborateur d. Übers] arbeitete, aber großen Respekt vor meinem Vater hatte, meine Mutter und mich am Arm und stieß uns in das Haus, in dessen Nähe die Menschen erschossen wurden. Gerade als meine Mutter mit mir auf dem Arm auf die  Bank im Haus fiel, hörte sie die Schüsse. Sieben Menschen wurden an diesem Tag erschossen. Stellen Sie sich das Grauen einer Frau vor, die mit einem Baby im Arm zu einer Erschießung geführt wird… Das waren zwei solch schreckliche Episoden.

Für diese große Sache, für den Willen, dem deutschen Volk die Wahrheit zu bringen, sind wir, die überlebenden Kinder des Krieges, Ihnen unendlich dankbar. So etwas darf nie wieder geschehen.

Ich bin damit einverstanden, wenn Sie sich entschließen, meine Geschichten zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen
K. Tatiana Grigorjewna.