Raisa Romanovna T. – Freitagsbrief Nr. 229

Cherson, Ukraine
Juni 2022

Geschätzte Vereinigung „Allukrainische Vereinigung ehemaliger KZ- und Ghetto-Häftlinge“, KONTAKTE – KOHTAKTbI

Danke für Ihre Hilfe, die ich wirklich brauche. Danke, dass Sie uns, die Kinder des Krieges, die die Besatzung überlebt haben, nicht vergessen haben.

Die Führer und Kommunisten wurden jenseits der Wolga evakuiert, während wir Zivilisten der „Gnade“ der Invasoren ausgeliefert waren. Vor dem Krieg wurde mein Vater an die Front eingezogen, während meine Mutter und ich alle Schrecken des Alltags durchlebten. Meine Mutter wurde als Wäscherin und Putzfrau im Büro eingesetzt, und nachts machte sie Schnaps. Meine Mutter wusste nicht, wo sie mich lassen sollte, also band sie mich im Winter mit einem Schal auf dem Ofen (großen Kachelofen mit Sitzbank / d. Übers.) an irgendetwas fest, und im Sommer an ein Tischbein, und legte mir irgendwelchen alten Krempel hin. Die Bedingung der Deutschen war, Kinder nicht mit zur Arbeit zu nehmen, und wenn sie weinten und im Weg waren, wurden sie einfach erschossen, als wären sie Zielscheiben.

Im folgenden Jahr gab es schwere Repressionen, und die Menschen verstreuten sich nachts in den Wäldern, Sümpfen und verlassenen Bauernhöfen der umliegenden Dörfer. Vor unserer Abreise vergruben wir alle unsere Habseligkeiten und Dokumente in einem Fass im Wald in der Nähe unseres Hauses, und als wir zurückkamen, war unsere Bleibe abgebrannt, und wir versteckten uns in Bombenkratern, Gruben und Kellern. Unsere Sachen hatte jemand ausgegraben und von unseren Habseligkeiten war nichts mehr übrig: weder unsere Sachen, noch unsere Dokumente.

Wir waren Illegale (ohne Dokumente). Wieder mussten wir durch Dörfer, Wälder und Sümpfe herumziehen. Wir trafen auf andere Flüchtlinge, gruben Unterstände. Wir „ernährten“ uns von dem, was wir stahlen: Kartoffeln und Roggenähren von den Feldern, aus den Gärten Hühnereier und junge Küken, und wir sammelten Gras. Wir aßen alles, was essbar war: junge Kieferntriebe, Eicheln, Beeren, Pilze. Einmal, so erinnere ich mich, wurden wir in einem Dorf von den Deutschen verfolgt. Unsere Nachbarn und wir versteckten uns im Keller; ich sah einen Käfer an der Wand, bekam Angst und schrie laut auf. Man hielt mir den Mund zu und ich wäre fast erstickt, und es gab Fälle, in denen Kinder erstickten, aber die Anderen wurden gerettet.

Im Wald fanden uns die Späher der Einheit des Kommandanten Wershigora und nahmen uns mit. Wir verbrachten den Winter in Unterständen bei den Partisanen. Die Frauen kümmerten sich um die Verwundeten, wuschen die Wäsche und kochten Essen. Im Frühjahr machten sich die Partisanen mit all ihren Habseligkeiten auf den Weg in den Westen, und wir kehrten nach Hause zurück. Wir konnten nirgendwo wohnen, wir lebten bei unseren Nachbarn. Papa kam nach dem Krieg nach Hause, mit einem Schock durch schwere Prellungen und Quetschungen und krank. Mama erkannte ihn anfangs nicht einmal. Meine Mutter hat mir noch viele Geschichten erzählt, aber das ist schon lange her, und im Laufe der Jahre habe ich viel vergessen und wir haben versucht, uns nicht daran zu erinnern und unser Leben weiter zu leben. Aber es ist unvergesslich.

Noch einmal danke ich Ihnen für Ihre Hilfe. Ich habe 3.100 Griwna an Geld erhalten. Ich bin allein und habe niemanden, der mir hilft. Ich habe keine Kinder und meine Eltern sind vor langer Zeit gestorben. Ich bin durch Krankheit behindert.  Ich wurde 1940 geboren. Die Hesed (jüdische Organisation/ die Übers.) kümmert sich um meine allgemeine und medizinische Versorgung; ich bin nicht in der Lage, mich selbst zu versorgen.

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarow