Nikolaj K. – Freitagsbrief Nr. 121

Nikolaj K.

Belarus, Gebiet Mogiljow

26. 02. 2019

Erlauben Sie mir, meine Dankbarkeit auszudrücken für den Erhalt Ihres Briefes und der finanziellen Hilfe als Ausgleich für die mir zugefügten Gräuel während des Krieges 1941 bis 1945. Am Anfang des Krieges war ich drei Jahre alt und meine Schwester Sonja fünf. Wir wohnten im Dorf Zabolot’je, Belynitschskij Bezirk, Gebiet Mogiljowsk, Belarus. Meine Schwester und ich erinnern uns gut an die Ereignisse jener Zeit, die wir überstehen mussten. Erlauben Sie mir, einige Erinnerungen unserer Kriegskindheit mit Ihnen zu teilen.

Während der Besatzungszeit befand sich bei uns ständig eine deutsche Garnison, und in unserem Haus ließ sich irgendein wichtiger ranghoher Deutscher nieder. Bei ihm war Frau (so im Original / K.R.), und sie hatten ein mitgebrachtes deutsches Sofa. Uns setzte man hinaus, und meine Mutter, meine Schwester und ich wohnten bei unserer Großmutter Matruna. Unser Dorf befindet sich an der Landstraße Minsk – Mogiljow, es ist umgeben von Wäldern, in denen Partisanen waren. Einige Männer, die nicht zum Militär eingezogen worden waren, gingen in die Partisanenabteilung, darunter mein Onkel Zahar. Er kam dort um. Und einige traten in die Polizei ein und dienten den Besatzern. Der Krieg spaltet immer. Und er demoralisiert durch Grausamkeit und Angst.

Ich erinnere mich an diese grausamen und entsetzlichen Situationen. Die Partisanen verminten die Landstraße; da ersannen die Deutschen ein Mittel, um die Verminung der wichtigen Magistrale zu verhindern. Sie fingen an, jeden Morgen alle erwachsenen Bewohner unseres Dorfes auf die Landstraße zu treiben und zwangen sie, die Straße bis zum Nachbardorf Porohovka entlang zu laufen – die Minen mit den Füßen zu entschärfen. Dort wurde der Staffelstab des Entsetzens weitergereicht. Einmal wurde von einem solchen Todesgang auf einem Fuhrwerk unser Nachbar Onkel Wasilij zurückgebracht; er war von einer Mine zerrissen worden. Aber ich erinnere mich auch an Deutsche, die sich sogar damals gegenüber uns Kindern menschlich verhielten. Zum Beispiel war auf dem Nachbarhof eine deutsche Küche, und der gutmütige deutsche Koch goss der Herde hungriger Kinder Erbsensuppe in die mitgebrachten Töpfe, wenn wir zu ihm kamen. Ich erinnere mich daran, wie ein im Wachdienst völlig durchgefrorener deutscher Soldat zu uns kam, um sich aufzuwärmen. Er bot dem Großvater eine Papirossa an, zog aus der Brusttasche ein Familienfoto und zeigte es uns mit den Worten „Main Kinder!“(so im Original / K.R.).

Ihr Brief und Ihre materielle Hilfe haben für uns eine wichtige symbolische Bedeutung. Daraus wird deutlich, dass das deutsche Volk, das die Katastrophe des Nazismus durchlebt hat, seine Geschichtslektion gelernt hat. Ich weiß aus der Literatur, dass das nicht einfach war, und dass z.B. nach der Niederlage viele Deutsche die Ideologie des Faschismus für brauchbar hielten und der Meinung waren, nur Hitler habe alles verdorben. Und als der Philosoph Karl Jaspers über die deutsche Schuld sprach, trampelten die Studenten im Hörsaal so laut, dass er nicht zu hören war.

Wir haben die tragische Geschichte des Stalinismus und wir sind auch noch auf dem schwierigen Wert der Bewertung und Neubewertung. Deshalb teile ich Ihre Worte, dass „der Friede dort blüht, wo die Menschen einander verstehen wollen, unabhängig von Grenzen“. Das ist besonders jetzt wichtig, wo die Welt ihre Standfestigkeit verliert und die Kräfte der Reaktion und des Revanchismus wiedererstarken.

Nehmen Sie nochmals meinen Dank und den meiner Schwester, Kindern dieses fürchterlichen Krieges, entgegen. Wir sind solidarisch mit Ihnen im Streben nach Frieden und gegenseitigem Verständnis.

Nikolaj K.

Übersetzung aus dem Russischen von Karin Ruppelt