Nadeshda Danilovna K. – Freitagsbrief Nr. 176

Belarus, Gebiet Mogiljow

Eine Anmerkung: Ein „Ringkragen“ war ein zur Uniform von Feldgendarmen gehörender halbmondförmiger Messingschild mit der Aufschrift „Feldgendarmerie“, der mit einer massiven Kette um den Hals getragen wurde. Deshalb wurden Feldgendarme auch „Kettenhunde“ genannt.

Guten Tag, sehr geehrter Gottfried Eberle und Ihrem ganzen Verein!

Ich schreibe Ihnen auf Bitten meiner Großmutter Nadezhda Danilovna K., Einwohnerin des Dorfes G., Kreis Chaussy, Gebiet Mogilyov.

Vor Kurzem erhielt sie von Ihnen einen Brief und eine gewisse Summe Geld; dafür ist sie Ihnen sehr dankbar.

Meine Großmutter ist 84 Jahre alt. Sie hat ihr ganzes Leben der Kulturarbeit gewidmet – als Vorsitzende des Dorf-Kulturclubs und als Organisatorin der dortigen Gruppe „Vergissmeinnicht“.

Als kleines Mädchen erlebte sie alle Schrecken des Krieges mit. Wenn sie beginnt, von den Dingen zu erzählen, die ihr in dieser schweren Zeit geschehen sind, hat sie Tränen in den Augen. Und ebenso ist es unmöglich, sich all das ohne Tränen anzuhören. Sie musste Gefangenschaft und Flucht erleben und es blieb ihr nicht erspart, die Ermordung von Kindern zu sehen. Meine Großmutter beschreibt ganz genau, wie ihr Dorf abgebrannt wurde, und nur ein Haus ganz blieb. Einige Ereignisse hat sie selbst in ihrem Brief beschrieben. Ich schicke Ihnen den Brief.

Lesen Sie ihn, und wenn er sie berührt, können Sie ihn veröffentlichen.

Lieber Gottfried Eberle!

Ich habe Ihren Brief erhalten, über den ich mich unsagbar gefreut habe. Es ist für mich sehr angenehm und schmerzhaft, dass Sie sich nach 75 Jahren an den Krieg erinnern, und diesen Schmerz gemeinsam mit uns, unseren Familien, fühlen.

Ich möchte Ihnen von einigen Episoden dieses schrecklichen Krieges erzählen, die ich mit eigenen Augen gesehen habe.

In meiner Erinnerung, verblasst der Schmerz über das Mädchen Maria nicht. Als wir 1943 gewaltsam aus unserem Dorf Golovenchitsy vertrieben wurden und mit Pferdewagen fuhren, eskortierten deutsche Feldgendarmen mit Ringkragen auf der Brust die Kolonne. Sie verboten den Wagen strikt, den Asphalt zu befahren. Wenn wir nur 5 cm auf den Asphalt gerieten, fuhren sie mit dem Auto auf den Wagen auf, und hier stürzte das Mädchen Maria, fünf Jahre alt, auf den Asphalt und starb zwei Wochen später. Wir machten 20 Kilometer vor Bobrujsk Halt und wohnten dort für einige Zeit mit der Familie des Mädchens zusammen. Sie war ihre einzige Tochter gewesen.

Das habe ich mit eigenen Augen gesehen und es bleibt mir in Erinnerung. Dort, wo wir wohnten, verlief in der Nähe die Landstraße, und die Deutschen besuchten uns jeden Tag, nahmen die Mädchen mit nach Deutschland. Und wir, die Kleinen, wurden mit Ladestöcken unter den Decken hervorgeholt – auf der Suche nach den größeren Mädchen. Und das jede Nacht – das ist es, was mir in Erinnerung bleibt.

Wir  waren bei einer guten Frau untergebracht – der Nachname war Poloshevchikh – das war ihr Name oder Nachname. Sie brachte insgesamt 3 Familien unter. Wir danken ihr.

Hier eine Episode: Eine Tochter der Hausherrin, bei der wir mit drei Familien wohnten, war Lehrerin, ich weiß ihren Namen nicht mehr, ich weiß, dass sie Epilepsie hatte. Sie hatte vor meinen Augen einen Krampfanfall. Die Deutschen kamen, aber sie haben das nicht geglaubt, und beim letzten Mal haben sie sie bei einem Epilepsieanfall weggebracht, ich weiß nicht, was das für Folgen hatte.

Wir kehrten nach Hause zurück, als der Krieg noch nicht vorbei war.

Danke, dass Sie das alles verstehen. Wir danken Ihnen für Ihre Organisation. Gott segne Sie. Möge es keinen Krieg mehr geben.

Hochachtungsvoll

 N.D.

 Übersetzung Karin Ruppelt, Igor Makarov