Ljudmila Isaakowna Zh. – Freitagsbrief Nr. 203 (Teil 1)

Ukraine, Cherson

2014

Dieses ist der erste Teil des Berichts einer Überlebenden der Schoah in der Ukraine aus der Stadt Cherson, die hier über sich und ihre Mutter berichtet. Der folgende Freitagsbrief wird dem Bericht über ihren Vater gewidmet sein.

Ich bin eine von den Überlebenden der Schoah, geboren wurde ich im Jahre 1940. Mein Vater war Jude, meine Mutter nicht. Als der Krieg begann, ging mein Vater an die Front, und wir konnten uns nicht mehr in Sicherheit bringen. Als die Deutschen Cherson okkupierten, befanden wir uns in der Stadt. Die Verwandten meines Vaters (Mutter, Schwester, die Frau und die zwei kleinen Kinder seines Bruders – Marta, geb. 1936 und Ella, geb. 1941) wurden sofort mitgenommen und bald vernichtet. Uns (meine Mutter, meinen Bruder, geb. 1934, und mich) nahmen sie nicht sofort mit, weil meine Mutter Ukrainerin war und ihren eigenen Familiennamen trug. Aber dann fingen sie an, alle Juden mitzunehmen, mütterlicherseits und väterlicherseits, bis zur 4. Generation. Und unsere Mutter begann, uns zu verstecken. Wir gingen von einer Siedlung zur nächsten, von den einen Verwandten meiner Mutter zu den nächsten. Wir lebten in Kellern.

[…]

Meine Mutter war  Anna Terentjewna B.. Geboren am 14. Dezember 1909 in Cherson, in der Gegend von Sabalka. Ihre Familie war: Vater Terentij StefanowitschB., Mutter B. (K.) Dominija Nikolajewna, Bruder Michail, Schwester Oksana. Der Vater arbeitete als Kesselschmied in einer Reparaturwerft, er starb 1922 (chronische Colitis) und hinterließ meine Großmutter mit drei kleinen Kindern. Meine Mutter war 12, ihr Bruder 10, ihre Schwester 3 Jahre alt. Sie zog sie alle groß, ermöglichte ihnen eine Ausbildung. Meine Mutter war an der medizinischen Berufsschule, ihr Bruder beim Technikum für Straßenbau, ihre Schwester ebenfalls an der medizinischen Berufsschule. Unsere Großmutter konnte sehr gut nähen und versorgte uns mit Kleidung und arbeitete. Mutter ging an eine Schule für Binnenschiffer, danach wollte man sie an eine „Arbeiterfakultät“ schicken, aber sie wollte nicht, sie wollte Medizinerin werden, schrieb sich an der medizinischen Berufsschule ein, schloss sie 1934 als Arzthelferin ab, wurde als solche ins Donezbecken geschickt. Ein Jahr später kehrte sie nach Cherson zurück, fing dort als Arzthelferin an und schrieb sich an der medizinischen Abendschule für Chirurgie ein (die gab es damals in Cherson). Sie wollte sehr gerne Chirurgin werden. Sie nahm am Gesellschaftsleben teil, war eine aktive Komsomolzin, Leiterin der Pioniergruppe der Binnenschiffer „MJuD“. Bei der Komsomolzen-Arbeit lernte sie unseren Vater kennen, sie heirateten und bekamen 1934 einen Sohn. Sie studierte drei Jahre am Institut, aber dann wurde das Institut nach Odessa verlegt, [nur mit] Direktstudium. Sie konnte nicht ihre Familie, ihre Arbeit, ihren kleinen Sohn zurücklassen und so fand ihr Studium sein Ende, Chirurgin wurde sie nicht. Sie arbeitete bis zum Krieg als Arzthelferin. Am 22. Juni wurde sie zum Kriegsdienst eingezogen, arbeitete als Oberkrankenschwester beim Abtransportlazarett. Dort arbeitete sie, bis die Deutschen kamen. Sie konnte nicht fliehen. Wir hatten Fahrkarten für die ganze Familie meines Vaters – seine Mutter, seine Schwester, unsere Familie (Mutter und wir zwei Kinder), die Familie meines Onkels (Tante Tilja und zwei Töchter, Ella, geb. ’41 und Marta, geb. ’36). Aber die kleine Ella wurde krank und wir blieben alle. Uns konnte meine Mutter retten, alle anderen kamen um. Meine Mutter trug ihren eigenen Namen und man ließ uns zunächst in Ruhe. Mischa ging sogar in die erste Klasse. Aber dann begannen sie damit, alle Juden väterlicherseits und mütterlicherseits, Enkel und Urenkel bis zur 4. Generation festzunehmen. Wir waren im Pass unserer Mutter mit ihrem Familiennamen eingetragen, aber es wäre möglich, dass die Nachbarn uns verraten würden. Also versteckte uns unsere Mutter. Mischa schickte sie nach Radensk, nach Belozjorka zu Tante Oksana, aber dort verriet sie irgendein Nachbar und die Tante lief mit Mischa auf dem Arm bis nach Cherson. Naja, und ich war klein, mich konnte man leichter verstecken. Und im Sommer 1943 (daran kann ich mich schon erinnern) waren wir bereits in Woronzowka, in der Familie meines Onkels (er war an der Front), und wir blieben in der Familie des Vaters, bei seiner Frau, die Familie war groß und es war leichter, sich versteckt zu halten, wir lebten dort im Keller. Im Sommer rannten wir aufs Feld hinaus, einmal habe ich eine Wassermelone gegessen, verschluckte mich an einem Kern, er blieb in meinen Bronchien stecken und ich wäre beinahe gestorben. Man konnte mich gerade noch so retten. Mama machte sich große Sorgen, brachte mich zu Ärzten, einer sagte, ich sollte mehr an der frischen Luft sein. Erst im Winter hustete ich diesen Kern aus, meine Mutter hatte Angst, dass Vater aus dem Krieg zurückkehren würde und keine Tochter mehr hätte.

Hier ist noch eine Episode, an die ich mich erinnere: Als die Deutschen auf dem Rückzug waren, nahmen sie alles mit, kamen [auch] zu uns in den Keller. Ich war dort mit meiner Mutter. Wir hatten dort zwei Säcke stehen (vielleicht waren es Säckchen, aber für mich waren es Säcke), mit Getreide oder Mehl, und ich saß hinter den Säcken. Sie wollte sie mitnehmen, aber ich krallte mich mit meinen Händchen daran fest und begann zu weinen, der eine zog sein Gewehr, meine Mutter stürzte sich auf mich, aber der zweite Deutsche schob das Gewehr zur Seite, „Kinder, Kinder“ [dt.], (dachte wohl an seine eigenen Kinder) und sie gingen weg.

Als Cherson befreit wurde, machte sich meine Mutter mit uns sofort auf den Weg nach Hause. Vielleicht wurden wir ein Stück gefahren, aber den größten Teil liefen wir zu Fuß, mit unseren Bündeln, mit mir, noch ganz Kleiner, ich lief ein wenig und jammerte dann, dass meine Beinchen wehtaten. Meine Mutter stellt die Bündel ab, nimmt mich auf den Arm, trägt mich, geht dann zu den Bündeln zurück, läuft ein kleines Stück und dann das Gleiche von vorne. So liefen wir und kamen nach Hause. Mama nahm sofort eine Stelle am Krankenhaus der Binnenschifffahrt an. Vom Krankenhaus aus arbeitete sie zuerst bei der Sanitätsstation der Werft, dann bei der in der gewerblichen Berufsschule (die beim Chesed) und vor der Rente bei der Sanitätsstation der Werkstätten für Schiffsreparatur. Als wir zurückkamen, war es unmöglich, in unserem Haus zu wohnen. Dort hatten die Deutschen eine Art Pferdestall oder Scheune eingerichtet. Also krempelten meine Mutter, Großmutter und Mischa die Ärmel hoch und fingen an aufzuräumen. Das Dach war aus Schilf. Sie schlugen Schilf, trockneten es, banden es zusammen und flickten die Löcher, wo es nötig war. Die Fabrik half mit Holz aus, teilte uns Bretter zu (Verschnitt), wir deckten den Boden neu, setzten Türen und Fenster ein. Meine Mutter strich alles, weißte innen und außen. Überhaupt war meine liebe Mutter eine sehr ordnungsliebende Frau. Jedes Jahr strich sie nach, weißte innen und außen. Hielt das Haus sauber und ordentlich. Die Wäsche, die Vorhänge waren immer schneeweiß, gestärkt, und dass, obwohl es damals keine Waschmaschinen, kein Waschpulver gab, das Wasser holte man von der Pumpe an der Ecke. Zudem arbeitete sie als Sanitätsgehilfin im Sportzentrum. Im Winter in der Sporthalle „Avantgarde“ (heute ist dort ein Dom), und im Sommer auf dem Stadion „Spartak“. Die Arbeit war abends (die Sportveranstaltungen fanden abends statt). Eilte von der Berufsschule nach Hause, aß etwas, zog sich um und dann zur nächsten Arbeit. Sie arbeitete für zwei, damit unsere Kleidung, unsere Schuhe genauso gut waren, wie die der anderen. Erst als ich anfing zu arbeiten, gab meine Mutter die zweite Stelle auf. Sie arbeitete ohne Wochenende (wenn in der Schule frei war, gab es Training oder Wettkämpfe im Sportzentrum, im Stadion). Uns hütete unsere Großmutter, kochte, nähte für uns. Meine liebe Mutter und Großmutter waren wundervolle Menschen. Mögen sie in Frieden ruhen. Sowohl meine Großmutter wie meine Mutter schimpften und bestraften uns sehr selten. Obwohl ich nicht besonders brav war, frech und launisch. Und manchmal war es nötig, mich ausgiebig zu bestrafen. Hier ist eine Episode: ’47, kurz vor der Einschulung. Ich sollte in die erste Klasse kommen. Ich bekam neue Schuhe für die Schule. Sie verstehen, was in jenen Jahren neue Schuhe bedeuteten. Ich ging damals in den Kindergarten (er war irgendwo in der Gegend von Chesed). Meine Mutter war in der Früh zur Arbeit gegangen, meine Großmutter nach Nikopol gefahren (zur Familie ihres gefallenen Sohnes). In den Kindergarten ging ich selbst. Ich zog feierlich die neuen Schuhe an (obwohl Mischa es mir verboten hatte) und ging los. Nach dem Kindergarten ging ich zur Arbeitsstelle meiner Mutter, in die Werft, zog die Schuhe an der Pforte aus (damit meine Mutter nicht schimpfen würde). Als ich zurückkam, waren sie nicht mehr da, ich fürchtete mich nach Hause zu gehen, rannte aufs Feld hinaus (hinter der Sabalka, heute ist dort eine Wohnsiedlung), legte mich in den Sand um auszuruhen und schlief ein. Man hatte mich lange gesucht und vor lauter Freude, dass sie mich wieder hatte, hatte meine Mutter mir noch nicht einmal den Hintern versohlt, obwohl das angebracht gewesen wäre. Es gab noch mehr Gelegenheiten, mich gerechterweise ordentlich zu bestrafen, aber meine Mutter hatte immer Mitleid mit uns und bestrafte uns sehr selten. Meine liebe Mutter hatte, trotz aller Mühsal, eine Leidenschaft für Lieder. Sie machte die Wäsche, putzte – und sang dabei. Ich erinnere mich an viele dieser Lieder, obwohl ich selbst nicht gesungen habe (ein Bär ist mir aufs Ohr getreten). Immer mit einem Lächeln. Sie kannte viele Gedichte. Sie erzählte sie mir und ich lernte sie und erzählte sie später meinem Sohn, meinen Enkeln. Sie liebte es zu lesen, brachte Bücher aus der Bibliothek nach Hause und gewöhnte mich so ans Lesen. Sie liebte die Stickerei. Bei uns zu Hause gab es viele bestickte Deckchen, bestickte Kissenbezüge, Jäckchen. Meine Mutter arbeitete unter der Leitung des Krankenhauses der Binnenschifffahrt und hatte Anspruch auf Freifahrten (für sie und ihre Kinder) auf dem Wasser. Und jedes Jahr, wenn sie Urlaub hatte, fuhr sie mit uns mit dem Dampfer irgendwohin – mal nach Odessa, mal nach Kiew (zum Onkel väterlicherseits), mal nach Nikopol, mal in den Kaukasus. Jedes Jahr, bis ich 16 war, fuhr meine Mutter mit uns mit dem Dampfer irgendwohin. Nach der Schule bin ich nicht an die Hochschule gegangen (ich bestand die Aufnahmeprüfungen nicht). Ich bekam eine Stelle im Baumwollkombinat [ХБК] und schrieb mich nach zwei Jahren an der Abendberufsschule ein, dann an der Abendhochschule. Ich heiratete und bekam einen Sohn. Meine Mutter kümmerte such um meine Familie, um meinen Sohn. Sie verstarb mit 62 Jahren. Ich war im 5. Jahr an der Hochschule (das Studium an der Abendhochschule dauert sechs Jahre), mein Sohn war drei. Ich hatte es sehr schwer, sowohl körperlich (Arbeit, Familie, Studium) als auch psychisch. Ich wollte das Studium abbrechen, aber dann dachte ich, meine Mutter hätte sich sehr gewünscht, dass ich eine akademische Bildung bekomme und den Abschluss mache. Als ich die Urkunde über den Hochschulabschluss bekam, brachte ich sie ans Grab meiner Mutter. Nur dank meiner Mutter schloss ich mein Studium ab. So war meine geliebte Mama-Mamotschka.

Übersetzung aus dem Russischen: Jennie Seitz