Jewgenij Porfirjewitsch Piroshanskij – Freitagsbrief Nr. 65

Ukraine, Nikolajew
06.04.2005

Sehr geehrte Hilde Schramm und Herr Eberhard Radczuweit.

Hier einige Informationen zu meiner Person. Im Zuge der Verteidigung von Rostow-am-Don wurde ich verletzt und am 24. Juli 1942 gefangengenommen. Soweit ich weiß, sollten wir 36 Kommandeure (ich war Leutnant, unsere Einheit wurde von einem Oberst angeführt) nach Auschwitz geschickt werden. Nach sieben Tagen kamen wir in Kirowograd an, wo wir zum ersten Mal etwas zu essen bekamen. Unterwegs, an den Bahnstationen, ließen die Wachen manchmal zu, dass uns die lokale Bevölkerung Wasser und Brot gab.

In Kirowograd (Stalag 305) versteckte man mich im (Kranken]Revier, ich habe nirgendwo gearbeitet. Im Januar 1943 wurde ich per Etappe nach Rowno geschickt. Auch dort habe ich nicht gearbeitet. Im Juni 1943 kam ich nach Pskow, wo ich bei der Trockenlegung eines Sumpfes eingesetzt wurde. Ich erinnere mich an den Namen einer Firma: „Schpek“. Außerdem an den Namen eines Soldaten – Walter, ein Holländer. Er rettete mir das Leben, ließ nicht zu, dass ich von einem Wachmann erschossen wurde, der mich geschlagen und gezwungen hatte, alleine Stahleisen zu stemmen, das über 50 kg schwer war. Als man mich zwang, in der Drainage zu arbeiten, bis zum Knie im Wasser, begann meine Haut zu faulen, mein Kopf, mein Hals, meine Hände waren voller Entzündungen, aber im Revier durfte ich mir keinen Verband anlegen. Wieder war es Walter, der mich rettete. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat. Zwei Tage, nachdem er mir eine andere Arbeitbesorgt hatte, wurde er zusammen mit dem Wachtrupp nach Italien abkommandiert.

Ende 1943 schickte man mich nach Pärnu in Estland, dort baute ich Baracken. Im Januar 1944 kam ich nach Riga (Lettland). Unser Lager war in ehemaligen Panzerkasernen untergebracht. Am 10. Januar sperrte man uns Kommandeure wegen des Vorwurfs von Waffenbesitz in eine Todeszelle. Befreit wurden wir am vierten oder fünften Tag, nachdem ein Kriegsgefangener (Jegorow-Oreschkin) den tatsächlichen Besitzer der Pistole verraten hatte – Hauptmann Michail Potapenko.

In diesem Lager lernte ich den Gefreiten Willi Tym kennen. Er stammte aus Magdeburg. Er hat mir sehr geholfen und mich sogar vor drohenden Schlägen bewahrt. Geschlagen wurden wir oft und meistens ohne jeden Grund. Die Soldaten selbst schlugen uns zwar nicht, aber sie zwangen unsere Polizisten dazu und belohnten sie oft dafür.

Außerdem wurden wir gezwungen, sinnlose Arbeit zu verrichten: Auf der Baustelle lagen Haufen von Pflastersteinen aus Granit, etwa 15, 20 Meter voneinander entfernt. Jeder von uns musste einen nehmen, über den Kopf heben und im Gänsemarsch von einem Haufen zum nächsten tragen. Wenn wir nicht durchhielten und stolperten, verprügelten uns unsere Polizisten unter dem schallenden Gelächter der Wachen.

Das Essen sah in fast allen Lagern gleich aus: 1 Laib Brot pro 10 Mann, morgens Ersatzkaffee, mittags und abends 0,5 Liter Suppe (Balanda). Weil wir uns nichts zum Dienst bei der Russischen Befreiungsarmee melden wollten, bekam das ganze Lager drei Tage lang kein Essen, die Gefangenen wurden physisch gezüchtigt.

Von Riga aus kamen wir im Oktober 1944 nach Danzig, und von dort aus in das Lager Mildau IV [vielleicht Mühlberg /Elbe, Stalag IV B] (auf dem Territorium Polens). In den 13 Tagen dort bekamen wir je 8 feuchte Kartoffeln. Meine Englischkenntnisse kamen mir zugute – ein britischer Pilot (aus Cape Town), der bei Hamburg abgeschossen worden war, teilte sein Essen mit mir.

Danach, am 24. November 1944, brachte man uns nach Wittenberg. Ich arbeitete als Fräser beim Arado-Werk, das auf dem Gelände der Schokoladenfabrik Kant versteckt war. Hier schlug uns oft ein Meister namens Walter (ein Kroate). Mein Vorgesetzter Hans hat mich nicht einmal geschlagen. Anfang April 1945 wurden die Gefangenen aus unserem Lager zu Fuß nach Süddeutschland getrieben. Unterwegs bekamen wir nichts zu essen. Wenn wir durch Dörfer kamen, fraßen wir alles, was man essen konnte, wie die Heuschrecken. Aber wenn wir die Kolonne verließen, wurde auf unsgeschossen. Am 25. April trieben sie uns in den Steinbruch „Walter“ [?] bei Falkenheim [Falkenhain im Lossatal in Sachsen?]. Ich weiß nicht, was aus uns geworden wäre, denn die SS-Männer fingen an, uns mit Granaten zu bewerfen und aus Gewehren zu beschießen. Nur die plötzlich aufgetauchten US-Panzer retteten uns.

Jetzt bin ich Rentner und Invalide, erinnere mich mit Grauen an den Krieg, der unserem und Ihrem Volk riesige Verluste brachte. Möge sich so etwas nie wiederholen, auf dass Frieden herrsche. Verzeihen Sie meine schlechte Schrift, ich bin aufgewühlt, und ich sehe auch nicht mehr gut.

In aufrichtiger Verehrung

Jewgenij Piroshanskij

Aus dem Russischen von Jennie Seitz

Anmerkungen:

  1. Dieser Brief erreichte uns 2005. Damals überforderte uns die Flut der Briefe von ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen aus der Ukraine, viele wurden zwar beantwortet, aber nicht übersetzt, und landeten in einer Schublade. Jetzt werden nach und nach die interessanten Briefe übersetzt.
  2. Dass die Offiziere nach Auschwitz sollten, ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen. Der Name „Walter“ kommt tatsächlich dreimal in unterschiedlichen Zusammenhängen vor.