Il´ja Petrowitsch Bugajew – Freitagsbrief Nr. 130

Russland , Kreis Krasnodar Juli 2009  

Guten Tag, liebe Berliner Freunde! Ich möchte die Regeln der Höflichkeit und des Respekts befolgen und Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen. Aber nicht nur und sogar nicht so sehr für die finanzielle Unterstützung, als vielmehr für Ihre humanitäre Anteilnahme.

Sie haben mich gebeten, etwas aus dem Leben der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland zu schreiben. Es ist sehr viel vorgefallen und man kann nicht alles erzählen. Deshalb werde ich mich auf das Wichtigste begrenzen. Dazu aber ein wenig später. Zuerst möchte ich in groben Zügen die tragischen Ereignisse schildern. Die Tragödie, die Adolf Hitler angezettelt hat, betraf nicht nur die ehemaligen Kriegsgefangenen der UdSSR. Gegen Kriegsende befand ich mich auf dem Gebiet der amerikanischen Truppen. Dann wurde ich zusammen mit anderen Kriegsgefangenen auf die andere Seite der Elbe gebracht und den sowjetischen Truppen übergeben. Nach der Prozedur der sogenannten Filtration wurde ich, da ich mit den Faschisten nicht zusammengearbeitet hatte, wieder in die Reihen der Sowjetischen Armee aufgenommen und diente dort zwei weitere Jahre. Und da kam es zu einer bemerkenswerten Begebenheit. Die Armeeeinheit, in der ich war, brauchte Holz. In einer Siedlung in Deutschland, in der unsere Einheit stationiert war, wurden dann deutsche Männer zum Holzfällen in der Nähe der Siedlung gesucht. Auch „Frauen“ wurden für die Arbeit genommen. Die „Frauen“ mussten Zweige sammeln und verbrennen. Zu der Zeit konnte ich mich auf Deutsch einigermaßen verständlich machen. Aus dem Grund sollte ich die Gruppe dieser „Frauen“ leiten. Warum Frauen in Anführungszeichen? Nun, weil es hübsche und blutjunge Mädchen im Alter von 17 bis 22 Jahren waren. Im Laufe der Arbeit unterhielt ich mich mit ihnen über Verschiedenes. Alle verurteilten Hitler scharf. Sie beklagten sich darüber, dass alle jungen Männer an die Front gekommen waren und sie niemanden zum Heiraten hätten. Diese Begebenheit zeigt, dass jeder angezettelte Krieg Unglück und Leid für alle Seiten bedeutet.

 Als ich im Bergwerk Walsum [Duisburg] gearbeitet habe, bekam ich am linken Knie eine Entzündung, sogenannte Bursitis. Nachdem ich einen Monat lang erfolglos im Lager behandelt worden war, brachten sie mich ins Lazarett. Da jede Verlagerung unter Bewachung stattfand, wusste ich weder, wie weit das Lazarett entfernt war, noch wie die Stadt hieß, in der es war. Als ich wieder gesund war, kamen Wachsoldaten, um uns zurück zum Bergwerk zu bringen. Auf dem Weg zurück geriet der Zug in einer Stadt in einen Bombenangriff der Amerikaner. Alle Passagiere wurden am Bahnhof in den Luftschutzbunker geschickt. Der Schutzraum befand sich sehr tief unter der Erde. Weil wir sehr viele Menschen waren, kam es zu einem schrecklichen Gedränge. Die Frauen schrien hysterisch, was aber beim Lärm der Bombenexplosionen nicht zu hören war. Nach der Entwarnung verließen alle den Bunker, und da bot sich unseren Augen ein schreckliches Bild: Alle Züge brannten, der Bahnhof brannte, überall loderten die Flammen. Man konnte nirgendwohin gehen, die ganze Stadt stand in Flammen.  Die Leute sagten, beim Angriff seien 800 Flugzeuge im Einsatz gewesen.

Unsere Wachsoldaten beschafften sich irgendwo eine Leiter und wir entkamen dem Feuerkreis über ein Dach. Dann bekamen die Wachsoldaten Anweisungen, wohin sie gehen sollten. Sie führten uns zu einem brennenden vierstöckigen Haus, das sich über den ganzen Block erstreckte. Die Hälfte des Hauses stand in Flammen. Auf dem Dach arbeiteten einige Männer, sie zerschlugen das Dach, damit sich das Feuer nicht ausbreiten konnte. In dem Haus waren keine Bewohner mehr. Wir bekamen die Aufgabe, über die Treppe die Möbel vom vierten Stock runter auf die Straße zu tragen. Die Arbeit dauerte bis zum Abend. Am Abend bekamen wir etwas zu essen, dann hieß es losmarschieren. Die Wachsoldaten bekamen den Weg gesagt und wir gingen weiter. Es war schon Nacht. Auf dem Weg hielten wir oft an, weil unsere Papiere kontrolliert wurden. Die ganze Stadt brannte. Als wir an den Stadtrand kamen, flogen wieder Flugzeuge an und warfen nochmal Bomben über der bereits brennenden Stadt ab. Von oben konnten sie gut erkennen, wo sie die Bomben abwerfen mussten. Wieder mussten wir in einen Luftschutzkeller. Dort waren Frauen und Kinder. Der Bombenangriff dauerte nicht lange und nach der Entwarnung mussten wir weitermarschieren. Endlich erreichten wir unser Ziel, das Nachtlager. Das war ein riesiges und hohes einstöckiges Gebäude. Innen standen dicht an dicht vierstöckige Metallbetten. Alle Betten waren belegt. Alle trugen die gleiche Kleidung. Und alle waren sie Krüppel.

Es waren ehemalige Soldaten, die hier „behandelt“ wurden und auf dem Weg ins Jenseits waren. In der Nacht fielen viele von ihnen von den oberen Betten auf den Fußboden und wanden sich in epileptischen Anfällen auf dem Boden. Wer konnte, der kletterte aus dem Bett und zu Dritt oder zu Viert warfen sie sich auf ihn und versuchten ihn festzuhalten, bis der Anfall vorüber war.

Ja, solche Dinge waren die Folge dessen, was der Krieg angerichtet hat.

Vor dem Beginn des Krieges oder besser: der Kriege sagte Hitler – ich zitiere: „Wenn WIR aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können WIR in erster Linie nur an Russland und die ihm untertänigen Randstaaten denken. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Kraftprobe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“ Das war Hitlers wichtigstes Credo, auf dessen Grundlage man nicht nur einen Krieg, sondern einen ganzen Weltkrieg anzetteln konnte.

Jetzt zur anderen Seite der Medaille. Nachdem ich nach der Gefangenschaft zwei Jahre in der sowjetischen Armee gedient hatte, wurde ich 1947 aus dem Armeedienst entlassen. Da begegneten mir die nächsten Schwierigkeiten. Das betraf aber nicht nur mich, sondern alle, die in Deutschland hinter Stacheldraht gesessen hatten. Und das waren ja nicht gerade wenige. Während des gesamten Krieges gerieten etwa 5 Millionen in deutsche Gefangenschaft. Von ihnen kamen zwei Millionen dort aus unterschiedlichen Gründen ums Leben. Drei Millionen kehrten zurück, mit unterschiedlichem Status. Der Hauptstatus aber war nach Anweisung von Stalin – Vaterlandsverräter. Ich möchte diese Anweisung nicht werten, denn sie betraf nicht nur mich. Als in der Schlacht um Wolgograd bzw. Stalingrad der deutsche Feldmarschall Paulus gefangen genommen wurde, befand sich Stalins Sohn schon in deutscher Gefangenschaft in Deutschland. Die deutsche Kommandoführung schlug Stalin einen Tausch vor. Stalin lehnte ab. Wenn Stalin also seinen eigenen Sohn dem Tod überlassen konnte, und das natürlich nicht, weil er unbedingt den Feldmarschall behalten wollte, dann waren drei Millionen Vaterlandsverräter für ihn einfach ein Klacks. Was aber hieß das, Vaterlandsverräter zu sein? Ich werd’s Ihnen sagen. Eine Ausbildung, sogar die allerniedrigste, war nicht erlaubt. Man konnte noch so gut sein, auf eine leitende Position ließen sie einen auf keinen Fall. Nur schlecht bezahlte Schmutzarbeit ließen sie einen machen. Zum Beispiel bei der Eisenbahn: Nägel in die Schwellen schlagen oder den Kies unter den Schwellen aufschütten. Man könnte ja ausländischer Spion sein und den Zug in die Luft sprengen. So war das…

Einer aus meinem Dorf, der genauso alt war wie ich, wurde am gleichen Tag wie ich in die Armee einberufen. Er kam auch als Kriegsgefangener nach Deutschland, aber nicht ins Bergwerk, sondern in eine Fabrik. Nach dem Krieg wurde die Fabrik demontiert und im Zuge der Reparationen in den Ural gebracht. Zusammen mit der Fabrik wurden auch die sowjetischen Kriegsgefangenen, die dort gearbeitet hatten, in den Ural gebracht. Dort mussten sie Baracken bauen und mit Stacheldraht umzäunen. Dann mussten sie die Fabrik wieder aufbauen und dort unter Bewachung arbeiten, alles wie in Deutschland. Fünf Jahre lang war er dort. Erst dann wurden die Wachleute abgezogen. Er kehrte in seine Heimat zurück und wir trafen uns.

Ja, so ein Charisma hatte der weise Josif Wissarionowitsch Stalin-Dshugaschwili…

In Russland lebte einst ein großer Dichter, Michail Lermontow. Seine Berufung war die Poesie, von Beruf war er Offizier. Als Offizier musste er im Kaukasus dienen. Dort studierte er intensiv die Sitten und Bräuche der Bergvölker. Lermontow hat dazu das Gedicht „Der Flüchtling“ verfasst. In diesem Gedicht sind das Leben, die Sitten und Bräuche sowie der Umgang mit den Feinden sehr gut beschrieben. Für Stalin waren die ehemaligen Nazi-Häftlinge bekanntlich Feinde.

Nahmst du Rache? Nein, ich hatte keine Kraft mehr. Da helfen keine Bitten und kein Flehen, die Mutter lässt den Sohn nicht in ihr Haus. So in etwa ist es in dem Gedicht.

Damit möchte ich meine Erzählung beenden. Zum Abschluss noch eine Anmerkung. Die Anrede „Gospodin“ [Herr] benutze ich nicht. Ich bin es nicht gewöhnt, mit „Herr“ angesprochen zu werden. Ich bin in einem anderen Geist erzogen worden. Und wenn ich für Sie und Sie für mich keine Genossen sind, dann gibt es die Initialen und den Nachnamen. Das genügt völlig.

Nichts für ungut!

Wenn Sie das Gedicht „Der Flüchtling“ nicht kennen, dann empfehle ich Ihnen, es zu lesen.

I. P. B.

Bitte achten Sie nicht auf die Flecken und Fehler. Ich sehe schon sehr schlecht.

Nun noch ein Ausschnitt des Krieges von der anderen Seite. Und einer, der heraussticht, weil er viel Aussagekraft hat und sich mit nichts vergleichen lässt. Aus den Daten folgt, dass sich diese Vorfälle im Sommer 1942 ereigneten, im Juli, August usw. Ich war damals schon nicht mehr dabei, denn am 12. Juni wurde meine Einheit bei Charkow von deutschen Truppen eingekesselt. Das Sowjetische Informationsbüro berichtete damals, dass bei Charkow 78000 sowjetische Truppen vermisst seien (so nannte man damals Truppen, die in einen Kessel geraten waren). Zur gleichen Zeit berichtete die deutsche Kommandoführung, man habe 240000 sowjetische Truppen gefangen genommen. Ich denke, dass beide Seiten gelogen haben. Die eine Seite gab die Verluste niedriger an, um ihre Truppen nicht zu demoralisieren. Die andere Seite nannte höhere Verluste auf der Seite des Feindes, weil sie den Kampfgeist in ihren Armeen stärken wollte. Nach der Entlassung aus der Armee habe ich einen Soldaten aus meiner damaligen Kompanie wieder getroffen. Er war nicht in der Gefangenschaft gewesen. Nachdem ich mehrmals von einem Lager ins nächste überführt worden war, kam ich im August 1942 nach Berlin. Wir mussten an einem Güterbahnhof arbeiten. Dort trafen Transporte aus der UdSSR ein, und die Kriegsgefangenen mussten die Güter ausladen. Meistens waren es Kartoffeln. Manchmal auch Altmetall. Zum Ende des Sommers wurde das Lager in Berlin aufgelöst und ich kam ins Bergwerk Walsum. Davon habe ich schon geschrieben. Natürlich nicht alles. Aber in einem Brief kann man auch nicht alles schreiben.

 Aus dem Russischen von Valerie Engler