Antonina Aleksejewna R. – Freitagsbrief Nr. 194

Dnipro, Ukraine
15.10.2021                                                                             

Guten Tag!

Ich wende mich an Sie mit Worten der Dankbarkeit. Besonders nachdem ich bereits zweimal in den Genuss Ihrer Hilfe kam. Leider waren die Jahre 2020 und 2021 sehr schwierig für mich, da ich im Januar 2020 eigentlich eine einfache Operation hatte. Es wurde ein Überbein am rechten Fuß entfernt. Die Wunde heilte lange nicht, und in der Folge erlitt ich im April einen Schlaganfall. Und schon im März 2021 kam ich mit dem Corona-Virus ins Krankenhaus und hatte eine beidseitige Lungenentzündung. Dadurch wurde die Krankheit wieder abgelöst und ich hatte wieder Symptome nach dem Schlaganfall. Da kam Ihre Hilfe gerade recht. Erst am 10. Oktober kam ich nach der Behandlung aus dem Krankenhaus nach Hause. Ich hatte einige der Präparate mitgenommen, und sie haben zu meiner Heilung beigetragen. In einem halben Jahr muss ich die Präparate nochmals nehmen, und ich habe noch einen Vorrat. Deshalb drücke ich in Ihrer Person nochmals den Menschen meine Dankbarkeit aus, die die Möglichkeit finden, anderen materiell zu helfen.

Jetzt zu mir.

Diese Erinnerungen wurden von meiner Schwester, Walentina R., auf Wunsch der Organisation, der wir angehören, für ein Buch zu Papier gebracht. Ich weiß nicht, ob dieses Buch veröffentlicht wurde. Leider ist Walya am 11. Januar 2019 verstorben. Auch mein Bruder Boris ist verstorben, am 16. Juli 2013.

Aufgeschrieben hat sie Walentina, da sie zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse älter war. Sie war am 25. August 1941, dem Tag der Besetzung der Stadt, sieben Jahre alt. Sie wurde am 2. Oktober 1934 geboren. Mein Geburtsdatum ist der 10.05.1943. Ich war zum Zeitpunkt meiner Internierung erst 4 Monate alt.

Alles, was sie geschrieben hat, kann ich bestätigen, da wir oft darüber gesprochen haben.

Leider war es erst nach 1985 in unserem Land, damals der UdSSR, möglich, laut darüber zu sprechen. Ich erinnere mich jedoch noch daran, wie unsere Mutter am 19. September 1992 starb und wir bei ihrer Beerdigung die Trauerrednerin darum baten, in ihrem Text über den Lebensweg unserer Mutter, Warwara Stepanowna R., zu sprechen.  Die Rednerin war erschrocken. Sie behauptete, darüber, dass die Verstorbene gewaltsam nach Hitlerdeutschland verschleppt worden war, dürfe man nicht sprechen. Und erst, als ich das nicht akzeptierte, war sie dazu bereit und sprach darüber. So verschreckt waren die Menschen. Die Ukraine war da schon seit dem 24.8.1991 ein selbständiger Staat.

Ich habe schon erwähnt, dass wir erst zur Zeit der Perestrojka begannen, laut darüber zu sprechen. Und so wurde auf Initiative der Sowjetischen Kinder-Stiftung und des ukrainischen Schriftstellers und Publizisten Wladimir Wasiljewitsch Litwinov am 22. Juni 1988 in Kiew das Allunions-Treffen der ehemaligen minderjährigen Gefangenen des Faschismus einberufen. Warum in Kiew? Weil Kiew die erste Stadt war, die die Waisenkinder in Heimen untergebracht hatte, die nach der Befreiung aus der Sklaverei heimgekehrt waren. Nach diesem Treffen entstand unsere Vereinigung der minderjährigen Gefangenen mit dem Zentrum in Kiew. Im ganzen Staat wurden auf der Ebene der Republiken solche Vereinigungen gegründet. Im Jahr 1989 verabschiedete die Regierung der UdSSR ein Dekret, mit dem Kinder, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung 18 Jahre alt waren, den Armee-Freiwilligen gleichgestellt wurden. Und wir erhielten auch solche Bestätigungen. Sie waren gültig bis 1992. Nachdem die Vereinigungen in den Republiken gegründet worden waren, begannen wir, für unsere Rechte zu kämpfen, Briefe an die deutsche Regierung zu schreiben. Im Ergebnis ermöglichte Deutschland die Stiftung zur Auszahlung von humanitärer Hilfe an die zu diesem Zeitpunkt noch lebenden ehemaligen Gefangenen. 1993 verabschiedete auch der Oberste Sowjet der Ukraine das Gesetz „Über den Status der Veteranen und die Garantie ihrer sozialen Versorgung“, wobei in einzelnen Artikeln festgelegt wurde, dass unsere Kategorie, die gewaltsam zur Zwangsarbeit und in Konzentrationslager Verschleppten, bezüglich Privilegien mit den Kriegsinvaliden, den Teilnehmern an Gefechten und den Kriegsteilnehmern gleichgestellt wurden. Und im Jahr 2000 wurde das Gesetz „Über die Opfer der Naziverfolgung“ verabschiedet. Und in der Folge Änderungen am Gesetz.

Nach der Gründung der Gebietsvertretung Dnepropetrowsk der minderjährigen Gefangenen der faschistischen Konzentrationslager schaltete ich mich in die Arbeit ein. Wir versammelten die Überlebenden der Gräuel des Krieges. Nach dem Zerfall der UdSSR versammelten sich 1992 in unserer Stadt am Dnipro, damals Dnepropetrowsk, Delegierte aus allen Ecken der ehemaligen UdSSR zur Gründungskonferenz. Kiew blieb das Zentrum. Wir begannen, für einen gerechten Ausgleich zu kämpfen. Und 1999 kam der Beschluss über Zahlungen an die Zwangsarbeiter. Über deren Arbeit wissen Sie natürlich alles. 1994 arbeitete ich schon in der Gebietsvertretung Dnepropetrowsk der ukrainischen Stiftung „Gegenseitiges Verständnis und Aussöhnung“, am Anfang ehrenamtlich, und später in leitender Funktion. Nach dem Tod des Leiters der Vertretung, Petr Kuzmitsch Welitschko, im Januar 2006 wurde ich zur amtierenden Stellvertreterin und danach zur Leiterin der Gebietsvertretung ernannt. 2008 stellte die Vertretung ihre Arbeit ein.

2010 wurde mir vorgeschlagen, die Abteilung Dnepropetrowsk (…) auf der Basis der Internationalen Organisation MF „Gegenseitiges Verständnis und Aussöhnung“ zur Realisierung von Projekten im Interesse der Opfer des Nazismus zu leiten. 2012 – 2013 leitete ich das medizinisch-soziale Hilfsprojekt „Klub – Der Zukunft zuliebe“ für Opfer des Nationalsozialismus. (Ich lege Prospekte bei), und auch das Such- und Forschungsprojekt „Gedächtnis“ zur Bewahrung des historischen Gedächtnisses an die Opfer des Besatzungsregimes in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Dnepropetrowsk in den Jahren 1941 – 1943. Anhand der Ergebnisse dieses Projekts wurde eine Gedenktafel enthüllt, die den zur Zwangsarbeit nach Hitlerdeutschland verschleppten Personen gewidmet ist. Nach offiziellen Angaben (Auskunft des Staatsarchivs) waren das 70.000 friedliche Bürger, im Wesentlichen Frauen und Kinder. Inoffiziell spricht man von mehr als 150.000. Wir haben auch das Buch „Lebendige Erinnerung“ herausgegeben mit Erinnerungen von Zeitzeugen der Besetzung der Stadt Dnepropetrowsk. Diese Bücher verschenkte die Organisation an 200 Schulen in der Stadt, an die Stadt- und Bezirksbibliotheken, ebenso an einen Teil der berufsbildenden Oberschulen und Berufsschulen, mit denen wir zusammenarbeiten, und auch an die städtische Universität. Ein Buch schenkten wir der Stadtbibliothek von Köln, wo ich als Begleiterin der minderjährigen Gefangenen Walentina D. war, die in diesem Frühjahr gestorben ist.

Im Jahr 2016 war auf meine Initiative hin eine Gruppe von 12 ehemaligen Gefangenen in Israel. Dabei verschenkten wir ein Buch über das besetzte Dnepropetrowsk, in dem es ein Kapitel über die jüdische Bevölkerung unserer Stadt gibt, an das Holocaust-Museum in Jerusalem.

In der zweiten Jahreshälfte 2013 hörte ich auf, in der Stiftung zu arbeiten, da meine mittlere Schwester Nina schwer erkrankt war. Ihr Mann war schon tot, Kinder hatte Nina nicht. Und ich hielt es für meine Pflicht, mich um sie zu kümmern, so wie sie sich in der Gefangenschaft um mich gekümmert hatte. Dann übernahm meine Tochter Swetlana offiziell die Sorgepflicht für Nina, da diese eine mentale Erkrankung hatte – vaskuläre Demenz.

Bevor ich für die Stiftung arbeitete, macht ich den Abschluss als Setzerin an einer Druckerei-Fachschule, arbeitete in dieser Funktion in einer bezirklichen Druckerei und dann als Meisterin der Facharbeiter-Ausbildung in der Fachschule, in der ich studiert hatte. Dann machte ich ein Fernstudium an der Druckerei-Fachhochschule. Danach bekam ich eine Stelle als Ingenieurin in der Bezirksdruckerei-Verwaltung, und arbeitete schließlich aus familiären Gründen in der Fertigung des Verlags „Zorya“. Ab 1982 arbeitete ich im Schwermetall-Ministerium als Ingenieurin für Qualitätsprüfung und in der Geschäftsführung. Nach der Auflösung des Ministeriums 1987 ging ich zurück an die Hochschule und ab 1989 in die Bezirksdruckerei, um die noch fehlende Zeitspanne an gesundheitsschädlicher Arbeit zu leisten und mit 50 in Rente zu gehen. Danach arbeitete ich ab 1990 als Schriftsetzerin bei der Kreiszeitung. Nach der Pensionierung 1993 half ich als Ehrenamtliche bei der Organisation von Auszahlungen und außerdem als stellvertretende Vorsitzende in der städtischen Gewerkschaftsabteilung, ebenfalls ehrenamtlich, und danach in der Bezirksorganisation der Gewerkschaft.

Hochachtungsvoll, Antonina R., ehemalige minderjährige Gefangene des Faschismus

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt