Anna Iosifowna M. – Freitagsbrief Nr. 115

Anna Iosifowna M.
Ukraine, Nikolajew

Vor dem Krieg bestand unsere Familie aus sechs Menschen: mein Vater, meine Mutter und ihr Bruder, meine Großmutter, ich und eine Ukrainerin, die wie ein Familienmitglied mit uns lebte. Als ich klein war, war meiner Großmutter Brucha auf dem Markt eine Frau um die 30 aufgefallen, die viel älter aussah. Sie hatte einen aufgeblähten Bauch, offenbar aus Hunger. Meine Großmutter bot ihr an, bei uns zu wohnen und dafür auf mich aufzupassen. Sie war eine angenehme, fürsorgliche Dörflerin, an die ich mich natürlich schnell gewöhnte.

Wie das Leben so spielt, hat die Hilfe meiner Großmutter, die sie dieser einfachen Frau erwiesen hatte, unserer Familie während der Okkupation wohl das Leben gerettet.

Eben sie, Gorpyna Boiko, war es, die uns später Essen ins Ghetto brachte, ohne das wir unmöglich überlebt hätten.

Als der Krieg ausbrach, war ich sieben Jahre alt. Genau in dem Monat war ich gerade sieben geworden. Wir hatten nicht die geringste Ahnung, wie sich unser Leben bald verändern würde.

Mein Vater wurde an die Front eingezogen. Ich weiß nicht mehr, wann die die Deutschen einmarschiert sind, aber im September erfuhr ich, was es hieß, eine Jüdin zu sein, ein Judas und ein Jide. Alle Juden mussten im Ghetto leben, sich einen sechszackigen Stern nähen und ihn links an der Brust und hinten am Rücken tragen, wahrscheinlich, damit die Deutschen besser zielen konnten.

Es waren schwere Zeiten angebrochen. Das Leben, das gerade noch so leicht erschienen war, war plötzlich erfüllt von Leid, Schmerz und Tod.

3,5 Jahre Ghetto, Zwangsarbeit, Erniedrigungen, Ungewissheit, Hoffnungen und Enttäuschungen, die zu Verzweiflung wurden.

Der Tod war immer präsent. Meine Großmutter Brucha und der Bruder meiner Mutter Onkel Elik, mein Onkel, starben an Bauchtyphus.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter mit mir an der Hand, sich versteckte und vor den Deutschen wegrannte. Irgendwelche Räume, Türen. Wir hatten es geschafft. Alles scheint gut. Aber dann ein Schuss, meine Mutter sinkt zu Boden. Neben mir. Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Moment fühlte, aber was kann ein Kind schon fühlen, das seine Mutter sterben sieht, während es sie an der noch warmen Hand hält. Gerade noch war sie am Leben, nur ein kleiner Augenblick, und die Welt verändert sich.

Ich wünschte mich zurück in die Zeit vor dem Krieg. Blauer Himmel, sorglose Kindheit, Vater und Mutter sind bei mir.

Ich erinnere mich an Stimmen, Schreie: „Sie haben unsere Polja ermordet!“

Meine Mutter wurde durch das Fenster ins Zimmer gehoben und Sonja Soroker half ihr, bei uns zu bleiben.

Heute, am 28. März 1944, hat meine Mutter überlebt.

Am nächsten Tag marschierten die sowjetischen Truppen im Baltikum ein.

Aus dem Russischen von Jennie Seitz