Aleksandra Nikiforowna St.– Freitagsbrief Nr. 224

Belarus, Gebiet Mogiljow

Lieber Bernhard Blankenhorn und Ragna Vogel!

Vielen Dank für den Brief, den Sie mir geschickt haben. Auch ich möchte Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünschen. Ich wünsche Ihnen Gesundheit und Erfolg bei Ihrer schwierigen Arbeit für den Frieden, und dem deutschen Volk wünsche ich Frieden und Wohlergehen. Und vielen Dank an alle, die für den Frieden spenden. Richten Sie ihnen meine Grüße aus und danken Sie ihnen in meinem Namen.

Ich bin Belarussin mit einigen polnischen Wurzeln. Ich bin 88 Jahre alt, verwitwet und gläubig. Zu Beginn des Jahres 1941 war ich 6 Jahre und 5 Monate alt.

Das ist es, was mir in Erinnerung geblieben ist:

Der Krieg traf uns auf dem Bahnhof Miloye der belorussischen Eisenbahn. Wir wohnten in einer Kaserne in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Meine Mutter brachte früh die Kuh auf die Weide. Der Zug hielt an, und der Lokführer verkündete, dass der Krieg ausgebrochen sei und dass wir hier wegmüssten, weil sie die Brücke bombardieren könnten. Ich habe damals bei Verwandten in einem anderen Dorf übernachtet. Meine Großmutter wurde geschickt um mich zu holen. Sie kam und erzählte mir, dass der Krieg begonnen hatte. Das Militär hatte sie in einen Karzer gesperrt, um sie daran zu hindern, eine Panik auszulösen. Denn dort war ein Artillerie-Schießplatz. Er wurde aus einem Flugzeug beschossen, ebenso wie die Hirten, die nachts die Pferde weideten. Dann wurde meine Großmutter entlassen. Wir fuhren in unsere Heimat im Dorf Sin‘kov.

In der Zeit der Besatzung lebte ich mit meinen Eltern im Dorf Sin‘kov im Gebiet Mogiljow. Zu Beginn des Krieges war in unserem Dorf nichts besonders Schlimmes zu hören. Die Dorfbewohner brachten die Ernte der Kolchose ein und verteilten sie. Meine Großmutter, meine Mutter und mein Vater halfen auch bei der Ernte, aber man ließ für uns nur Krumen übrig. Im Winter hungerten wir schon, und im Frühjahr 1942 herrschte Hungersnot. Wir waren nur zu froh, wenn wir ein Stückchen Brot bekamen.

Die neuen Behörden stellten eigene Regeln und Gesetze auf. Das war alles im Jahr 1941. Sie wählten oder ernannten Obleute. Ein anderer Befehl: keine Juden, Zigeuner und Soldaten der abziehenden Armee ins Dorf lassen. Bei Zuwiderhandlungen war die ganze Familie „kaputt“. Also hatten alle Angst. Ich hatte vor allem Angst vor der Bombardierung. Die Tante meiner Mutter kam aus dem Dorf Bolshiye Belevitshi und erzählte, ihr Dorf sei zerbombt und niedergebrannt worden.  Es hatte sehr viele Opfer gegeben, und es herrschte Trauer um die Menschen, die jetzt obdachlos waren, und um die Angehörigen, die vom Flugzeug aus erschossen worden waren. Es war irgendwie entsetzlich. Diese Tragödie ereignete sich wahrscheinlich Ende 1941 oder Anfang 1942.

Bis Juni 1942 war fast alles normal. So sah es jedenfalls für mein kindliches Gemüt aus. Aber schon 1941 wurde mein Onkel Pjotr Efremowitsh Alshewskij getötet. So machten wir Bekanntschaft mit den neuen Machthabern. Wie es zu dieser Tragödie kam, will ich nicht beschreiben.

Die schrecklichsten Vorkommnisse in unserem Dorf geschahen im Juni 1942. Mir blutet das Herz, wenn ich an diese Tragödie denke. Sechzehn weitere Dorfbewohner wurden umgebracht. Sie wurden zusammen in einer Grube verscharrt. Sie müssen das Loch selbst gegraben haben, und dann wurden sie erschossen. Ich war zwar klein, aber ich kannte sie alle. Wir trauerten mit dem ganzen Dorf um sie. Dabei wurden dort auch unsere Verwandten getötet. Ich weiß nicht, weshalb sie verhaftet wurden. Ich weiß nur etwas über eine Familie aus unserer Verwandtschaft. Der älteste Sohn war Mitglied der Partei. Seine Frau war schon zuvor abgeholt worden. Sie hatte ein zwei Wochen altes Baby. Wie grausam und herzlos waren die, die das getan haben! Am nächsten Tag wurde die Großmutter abgeholt. Sie nahm das Mädchen auf den Arm, niemand hatte Mitleid mit ihr oder dem Kind. Der Großvater wurde zusammen mit der Großmutter getötet. Diese Frau hinterließ fünf Waisenkinder.

Ich erzähle Ihnen von noch einem Verbrechen. Eine andere Mutter von vielen Kindern wurde ebenfalls ermordet. Sie hatte vier Töchter und fünf oder sechs Söhne. Zwei Söhne, wahrscheinlich Komsomolzen, flohen in den Wald, während der Rest der Familie zu Hause war:  der älteste Sohn mit seiner Familie und seinen Kindern und jüngeren Brüdern, und ein Neffe mit seiner Familie. Alle wurden erschossen, außer den Töchtern. Ein Verwandter von ihnen war Bürgermeister, der freiwillig diente oder vielleicht unter Zwang. Sie fragten ihn, was sie mit den Brüdern machen sollten, wenn sie aus dem Wald zurückkehren würden. Als die zweiwöchige Einkesselung aufgehoben wurde, kehrten die Jungen nach Hause zurück. Ihre Schwester rannte los und informierte ihren Schwager, den Bürgermeister. Kaum hatte sie die Schwelle des Hauses überschritten, kamen die Bestien auf ihren Motorrädern angerast. Die Jungen stürzten hinaus, einer wurde in der Nähe des Hauses, der andere am Brunnen getötet. Ich habe es selbst gesehen und war sehr erschrocken. Die Jungen waren vielleicht fünfzehn oder siebzehn Jahre alt. So tat sich der diensteifrige Verwandte hervor. Ich denke: Wären sie nicht weggelaufen, hätte man sie vielleicht aufgegriffen und als „Polizaj“ [einheimische Helfer der Besatzer / d.Übers.] rekrutiert oder nach Deutschland verschleppt. Aber es war eine brutale. Tat.  Und die jüngeren Knaben wurden getötet, weil sie Pioniere waren. Gott ist Zeuge davon, was dieser Familie geschehen ist. Ich weiß es nicht genau, aber so wurde es erzählt.

Wir wohnten in einer Hütte an einem Feldweg etwa zweihundert Meter vom Dorf entfernt. In der Nähe unserer Hütte war ein solches Schlagloch in der Straße, dass jedes Auto vor ihm langsamer fuhr, und uns das Herz in die Hose rutschte, weil wir fürchteten, es wollte uns abholen.  Aber Gott sei Dank haben sie uns nicht angerührt. In unserem Garten wurde ein großes quadratisches Loch gegraben. Hier wurde eine deutsche Artilleriebatterie aufgestellt, und dort befanden sich auch die Besatzungssoldaten, die sie bedienten. Wir hatten sogar Angst, zum Brunnen zu gehen, um Wasser zu holen. Alle hundert Meter saßen schließlich deutsche Soldaten. Die Deutschen schossen aus dieser Batterie auf den Wald. Ich konnte nicht schlafen und hatte große Angst. Meine Mutter sagte: „Hab keine Angst, mein kleines Mädchen, die Geschosse fliegen sehr weit.“

 Mein Vater versteckte sich auf dem Heuboden. Niemanden interessierte das, und niemand suchte nach ihm. Aber einmal geschah Folgendes: Einer der Soldaten brachte ein Huhn und sagte meiner Mutter, sie solle es kochen. Das Huhn war alt und wurde nicht recht gar. Als er wiederkam, meinte er, meine Mutter würde sich weigern zu kochen, wofür sie einen Tritt in den Hintern bekam. Dann aß und trank er und wollte Mama dazu zwingen, mit ihm zu schlafen. Mama sagte, sie sei hungrig. Er brachte ein Stück Brot und verlangte immer wieder dasselbe. Da sagte Mama, sie würde sich bei seinem Vorgesetzten beschweren. Er gab auf und zog ab. Wahrscheinlich durften die einfachen Soldaten die Bevölkerung nicht schikanieren. Alle Gräueltaten wurden von der Gestapo und der Polizei begangen, Hitlers Handlangern.

Im Jahr 1943 wurde erlaubt, die als Grab dienende Grube zu öffnen und die Toten zu bestatten. Das ganze Dorf und die Verwandten aus anderen Dörfern kamen und gruben. Einige hoben Gräber auf dem Friedhof aus, andere suchten nach den Erschossenen und nahmen sie mit. Wir Kinder wollten trotz des üblen Gestanks auch sehen, wie sie herausgeholt wurden. Und ich habe gesehen, wie meine Mutter das Mädchen Maria mit Hilfe anderer herausgezogen hat. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr älterer Bruder waren ebenfalls getötet worden. Der jüngere Bruder hatte sich im Wald versteckt. Ihr Familienname war Boroditsch. Der ältere Bruder hinterließ drei Waisenkinder. Dann kam auch die Mutter dieser Kinder irgendwo um: entweder durch Banditen oder durch Deutsche. Niemand weiß, wie und wo.

Gegen Herbst 1943 schlachteten Partisanen die Kühe, stellten Würste her und lagerten sie in einem Trockengerüst im Vorratshaus. Aber es fand sich wohl ein Verräter, der ausplauderte, was wo zu finden war. Das Gerüst wurde in Brand gesteckt und auch die anderen Häuser und Gebäude.  Sie schütteten ein brennbares Gemisch darauf – die Dächer der Häuser waren mit Stroh gedeckt. Auch unsere Hütte wurde niedergebrannt.

Die Partisanen informierten uns, wann welche militärische Einheit der Hitleristen in unsere Richtung zog. Sie warnten uns, wenn wir uns vor den Bestrafern verstecken mussten. Dann gingen alle Familien in den Wald. Im Wald durften keine Feuer angezündet werden, aus Angst vor den Faschisten. So saßen wir da und verbrachten die Nächte in der Kälte und hungrig. Die Familien waren weit voneinander entfernt: Wenn der einen Familie etwas zustieß, konnte sich die andere noch retten. Wir bejammerten uns gegenseitig.

Nun werde ich Ihnen von den Verlusten unserer Familie und Verwandten berichten.

1941 wurde mein Onkel auf dem Bahnhof von Miloye getötet.

Der Onkel meiner Mutter und seine Frau wurden in Mogiljow auf dem Sowjet-Platz wegen Kontakten zu Partisanen gehängt.

Der 1926 geborene Bruder meiner Mutter, Iwan Potapowitsch, wurde nach Deutschland verschleppt und kehrte nie zurück. Er war noch sehr jung. Meine Großmutter und alle meine Verwandten trauerten lange Zeit sehr um ihn. Als diejenigen, die mit ihm in Haft gewesen waren, zurückkehrten, sagten sie, er sei in den Westen geflohen. Vielleicht war er noch irgendwo am Leben, denn die Verschleppten wurden [nach der Rückkehr / die Übers.] nicht gerade freundlich behandelt. Ich weiß nicht, als was die Nazis diese Gewaltmaßnahme dokumentierten: als freiwillig oder irgendwie anders. Sie schafften es, die Menschen bei der Verschleppung zum Lachen zwingen, wenn sie weinen wollten, und sie machten Fotos davon. Meine Großmutter war dabei, als sie verladen wurden, und schluchzte und flehte so sehr, dass sie fast erschossen wurde.

Papier und Gesundheit reichen nicht aus, um all das zu beschreiben. Das Ganze fand im Dorf Zhurowok, Bezirk Berezinskij, Gebiet Minsk, statt. Und wie viele meiner Verwandten sind an der Front umgekommen! Ich kann die Opfer nicht mehr zählen. Sehr viele!

Ich werde noch eine Gräueltat der Faschisten schildern, die mir noch jetzt die Tränen in die Augen treibt, wenn ich mich an diese Tragödie erinnere, die sich Ende 1941 oder 1942 zutrug: Ein Vater, seine beiden Söhne, seine beiden Töchter und seine Schwiegertochter flohen in den Wald und versteckten sich dort. Dann gingen sie zu den Partisanen. Und seine Frau (die Mutter dieser Söhne und Töchter) blieb mit ihrer jüngeren Tochter und den Enkelkindern zu Hause. Eines Tages gingen sie alle in den Wald und setzten sich an den Weg um auszuruhen.  Die jüngste Tochter Maria ging Heidelbeeren suchen. Die drei Enkelkinder waren Mädchen. Eins von ihnen hatte eine Tasse in der Hand und wartete darauf, dass Maria Beeren bringen würde. Plötzlich hörte Maria Maschinengewehrfeuer. Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, lief sie zu dem Haus, in dem die Mutter und die Kinder waren. Mutter und Kinder waren tot. Das Blut des Mädchens, das die Tasse hielt, lief in die Tasse. Welches Grauen und welches Leid musste Maria ertragen! Nur Unmenschen und Bestien konnten so etwas tun! Als Maria selbst mir von dieser Tragödie erzählte, habe ich sehr geweint, denn ich kannte die Familie sehr gut. Der Vorfall ereignete sich im Dorf Zalitshinka im Bezirk Klitshewskij im Gebiet Mogiljow.

Es gab noch ein schreckliches und brutales Ereignis. Beim Rückzug der deutschen Armee über die Minsker Chaussee (Mogiljow-Minsk), warnten uns die Partisanen, wir sollten uns in den Wäldern verstecken. Weil die Nazis auf dem Rückzug wütend seien und Zivilisten töten könnten. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli versteckten sich meine Mutter, Verwandte und andere Dorfbewohner und ich im Wald. Die Partisanen blockierten die Straße und es kam zu einem furchtbaren Kampf. Es gab viele Opfer auf beiden Seiten. Dafür rächten sich die Faschisten an den Zivilisten, die ihnen auf ihrem Weg begegneten, und zwar im Dorf Rubezh im Bezirk Belynick im Gebiet Mogiljow. Die Männer und einige junge Menschen flohen in den Wald, Frauen mit Kindern und alte Männer versteckten sich in Unterständen (große Gruben, die von oben mit Baumstämmen und Erde abgedeckt wurden). Die Nazis warfen Granaten und feuerten Maschinengewehrsalven in diese Unterstände. Ich kannte viele dieser Menschen. Sie waren von den Bauernhöfen im Dorf Sin’kow umgesiedelt worden. Das ist einen oder eineinhalb Kilometer von unserem Dorf entfernt. Das war ein wahres Blutbad.

Der Tag der Befreiung war nah, und es wurde noch so viel Blut vergossen. Alle das, was ich weiter oben geschrieben habe, erfuhr ich von Menschen, die mir nahestehen –Maria  Todorowna Malashko – sie erlitt eine Verletzung am Bein, ihre Mutter und ihr Bruder wurden ermordet. Außerdem berichtete mir ziemlich ausführlich Aleksandra Wasil’yewna Boroditsh.

Ich könnte noch mehr schreiben, aber ich sehe schlecht, und diese Erinnerungen sind nichts für mein krankes Herz. Vor Kurzem wurde ich an der rechten Wange operiert.  

Ich habe alles auf Russisch mit belorussischen Einschiebseln aufgeschrieben.

November – Dezember 2022. 9. Dezember 2022 – Tag des Gedenkens

Ich erlaube die Veröffentlichung meiner Erinnerungen über die tragischen Tage während des Großen Vaterländischen Kriegs, die ich auf dem Gebiet von Belarus‘ durchgemacht habe.

Ich bestätige persönlich, durch meine Unterschrift, dass ich, Aleksandra Nikiforowna St.

den Text geschrieben habe. 

(Unterschrift)

Übersetzung: Karin Ruppelt und Igor Makarow