Wladimir Danilowitsch Makarewitsch – Freitagsbrief Nr. 95

Diesen Brief erhielten wir 2012.  Wir haben bis jetzt gezögert, ihn zu veröffentlichen, weil  dies ein Beispiel dafür ist, wie Erinnerungen später durch neue Berichte und Bilder  überformt uns eingeordnet werden. Wir fürchteten, dass die Anmerkungen die Wahrnehmung des gesamten Berichts negativ beeinflussen könnten.  Herr Makarewitsch und seine Frau sind vor einigen Monaten gestorben, und wir haben der Tochter versichert, dass wir  den Bericht zum Gedenken veröffentlichen werden.

Deshalb hier die Anmerkungen: Die sowjetischen Kriegsgefangenen blieben bis auf Sonderfälle – Bestrafung, Aussonderung von Juden und „politisch nicht Tragbaren“ – im Gewahrsam der Wehrmacht in Stalags (Kriegsgefangenenmannschaftsstammlagern) und wurden im Allgemeinen von Landesschützen bewacht. Es gab keine Verbrennung von Verstorbenen und keine Bewachung durch SS. Adressiert ist der Brief an unseren früheren Kollegen Dmitri Stratievski.

Wladimir Danilowitsch Makarewitsch
Ukraine, Gebiet Shitomir

Guten Tag, Dmitrij!

Beste Grüße sendet Ihnen Galina Wladimirowna. Ich schreibe diesen Brief nach den Worten meines Vaters.

Ich wurde 1921 in einer kinderreichen Familie auf einem Bauernhof geboren. Wir waren neun Kinder. Ich war das siebte Kind. Meine Schule war im Nachbardorf. Ich habe vier Schulklassen abgeschlossen, dann bin ich nicht mehr zur Schule gegangen, denn ich musste zu Hause auf dem Hof helfen. Die älteren Kinder lebten schon selbstständig, hatten eigene Familien.

Als ich älter war, begann ich bei der Eisenbahn zu arbeiten. Ein Jahr oder anderthalb Jahre habe ich an der Bahnlinie gearbeitet, bis ich im Oktober 1940 in die Armee eingezogen wurde. Ich kam gleich zum Dienst in die Republik Litauen, nach Rietavas im Gebiet Šiauliai (18-20 km von der deutschen Grenze entfernt).

Der Dienst verlief zuerst normal, aber am 20. Juni 1941 wurde unser ganzes Regiment direkt an die deutsche Grenze verlegt. Am 21. Juni bekamen wir die Anordnung, Schützengräben auszuheben. Niemand wusste irgendetwas, obwohl wir ahnten, dass etwas passieren würde. In der Nacht auf den 22. Juni hatte ich Wache. Um 2:30 Uhr flogen deutsche Flugzeuge über sowjetisches Gebiet, und um 4:00 Uhr folgte die Kriegserklärung.

Die Deutschen beschossen unsere Zelte und schon um vier Uhr morgens hatten wir Verwundete und Tote zu beklagen. Wir traten den Rückzug an.

Mit drei anderen wurde ich zum Erkunden losgeschickt. Das war am 5. oder am 7. Juli, wir waren schon von den Deutschen eingekesselt, und am 10. Juli wurden wir Vier von den Deutschen gefangen genommen.

In der Stadt Šiauliai [Stalag 336 Schaulen] hatten sie bereits Lager eingerichtet, in denen schon Tausende Gefangene waren. Die litauischen Bauern suchten sich aus diesen Lagern Kriegsgefangene zur Arbeit in der Landwirtschaft aus. Auch ich kam zum Arbeiten zu einem Bauern, er hieß Anton Lunskis. Ich habe bei ihm bis November 1941 gearbeitet. Es ging mir sehr gut bei ihm. Er hatte Mitleid mit mir, verpflegt mich gut und behandelte mich wie den eigenen Sohn, obwohl er viel älter war als ich. Weglaufen hatte keinen Sinn, die Deutschen oder Litauer hätten mich getötet, deshalb habe ich so gut gearbeitet wie ich konnte. Als die Deutschen mich wieder abholen wollten, da bezahlte der Bauer für mich nochmal für zwei Wochen, aber danach nahmen mich die Deutschen dann doch mit.

Dann wurden tausende Gefangene in Zügen nach Deutschland deportiert und kamen ins KZ. Dort gab es ein KZ, in dem Tag und Nacht Menschen verbrannt wurden. Aber ich blieb dort nicht lange. Ich wurde mit 80 oder 100 anderen Gefangenen nach Hamburg gebracht, und dort mussten wir am Hafen arbeiten und Schiffe be- und entladen. Wir wurden von Einheiten der SS bewacht, von jungen Soldaten. Sie schlugen uns oft und schikanierten und demütigten uns. Unsere Verpflegung bestand aus Rüben und Wasser. Sie zwangen uns Gras zu essen wie das Vieh. Die Gefangenen aßen Gras und die Deutschen lachten. Wir schliefen in Stockbetten. Es gab keine Matratzen, wir schliefen auf dem Bettgestell. Auch Toiletten gab es keine, wir mussten unsere Notdurft in Kübeln in den Baracken verrichten.

Das war Anfang 1942. Und es ging so weiter bis Ende 1942/ Anfang 1943.

Dann wurden die Wachen ausgetauscht. Die SS-Männer wurden abgezogen und wir wurden nun von ehemaligen Frontkämpfern bewacht. Das waren schon etwas ältere Männer.

Von da an wurde unsere Verpflegung besser. Wir arbeiteten auf Schiffen aus Schweden, Dänemark, Holland, Belgien, Finnland und Norwegen. Anfangs luden wir Holz, Zement und Kohle aus, später auch alle möglichen Lebensmittel (1942-43), und da hatten wir es besser.

Wir füllten unsere Taschen, die Wachen beobachteten uns nicht immer, wir arbeiteten selbstständig. Die Schiffsbesatzungen aus den verschiedenen Ländern behandelten uns sehr gut. Sie kochten uns etwas zu essen.

In den Baracken gab es 1943 schon saubere Wäsche, die jede Woche gewechselt wurde. Es wurden auch Toiletten eingerichtet, und in den Baracken war es sauber. Und so haben wir dann bis zum Kriegsende gearbeitet.

Etwa am sechsten oder siebten Mai 1945 wurden siebzig Mann abgezählt und wir mussten losmarschieren, von vier Soldaten bewacht – wohin, wussten wir nicht. Wir marschierten von acht Uhr morgens bis elf Uhr abends und legten 35 Kilometer zurück. Dann erfuhren wir, dass wir kurz vor Magdeburg waren. Die Wachen sperrten uns dort in einen Schuppen ohne Fenster. Sogar das Dach war vernagelt, damit niemand fliehen konnte. Als sie uns dort einsperrten, dachten wir: Jetzt zünden sie uns an, das ist unser Ende. Aber die Wachen sperrten einfach ab und gingen weg. Gegen Morgen fuhren Panzer vor dem Schuppen vor. Wir hörten an den Gesprächen, dass es keine Deutschen waren. Später erfuhren wir, dass es Amerikaner und Engländer waren. Wir begannen zu schreien und zu klopfen. Sie sperrten den Schuppen auf und wir waren frei. Wir wurden gleich gewarnt: Auf Plünderung, Mord und Vergewaltigung steht der Tod durch Erschießen – alles andere steht euch frei.

Sie boten uns an, nach England oder Amerika zu emigrieren. Die Versuchung war natürlich groß und einige von uns willigten ein, da sie Angst hatten, dass die Sowjetunion uns nicht aufnehmen würde. Als ich zur Armee gegangen war, hatte meine Mutter mich mit einer Ikone gesegnet und gesagt: „So wie du dieses Haus verlässt, so sollst du auch in dieses Haus wieder zurückkommen.“ Und so wollte ich in die Heimat zurück.

Sie brachten uns in Kasernen, in denen vorher Deutsche gelebt hatten, gaben uns Bettzeug und viermal am Tag Essen. Dort waren mehrere tausend ehemalige Kriegsgefangene. Dann kamen russische Offiziere, wir wurden auf Autos verladen und in die Zone gebracht, in der nur sowjetische Truppen waren, aber noch in Deutschland. Dort ließen die Russen etwa 20000 Mann zu einer Kolonne antreten und wir gingen von dort zu Fuß in die UdSSR. Wir gingen Ende Mai 1945 los und kamen im November in Tula an. Dort durchliefen wir die sowjetische Sonderüberprüfung. Die Verhöre wurden nur nachts durchgeführt. Es gab viele, die während der Überprüfung verschwanden und wir haben sie nie wiedergesehen.

Auch ich wurde dreimal zum Verhör geführt. Nach der Überprüfung, nach etwa zwei bis drei Wochen, wurde ich mit 30 oder 35 anderen mit dem Zug zur Arbeit nach Moskau gebracht. Dort lebten wir schon als freie Menschen. Wir wohnten im Wohnheim und arbeiteten vor allem auf dem Bau. Das war Ende 1945/ Anfang 1946. Ende Oktober 1946 bekam ich endlich Urlaub und konnte nach Hause fahren.

So kehrte ich also nach exakt sechs Jahren nach Hause zurück. Ich hatte einen Monat Urlaub. Aber ich fuhr danach nicht mehr zurück nach Moskau. Ich hatte zwar keine Papiere, aber dafür war ich endlich zu Hause. Erst später bekam ich einen neuen Pass. Ich wurde gesucht, weil ich zurück zur Arbeit sollte, aber ich hielt mich versteckt. Aber am 6. Januar 1948 wurde ich dann doch entdeckt. Ich war schon verheiratet und mein Sohn war drei Monate alt. Der örtliche Polizist brachte mich in die Bezirksstadt aufs Polizeirevier. Der Polizeichef unterhielt sich mit mir und befragte mich nach den letzten Jahren. Als ich alles erzählt hatte, sagte er: „Hier, nimm dein Armeebuch und geh, du hast deine Zeit schon abgedient und genug gelitten. Eigentlich sollte ich Dich für fünf Jahre ins Gefängnis sperren, weil du eigenmächtig den Arbeitsplatz verlassen hast, aber ich kann es einfach nicht.“ Von da an war ich endlich frei und konnte mir einen neuen Pass ausstellen lassen.

Ich habe noch eine Weile bei meinen Eltern gelebt. 1950 wurde dort auch mein zweiter Sohn geboren. Dann haben wir uns ein eigenes Haus gebaut und wohnten allein, nicht mehr auf dem Hof, sondern im Dorf. 1956 kam unsere Tochter zur Welt. Zu der Zeit arbeitete ich schon als Gleisarbeiter an der Bahnlinie.

Ich habe bis 1982 bei der Bahn gearbeitet, dann bin ich in Rente gegangen.

In der ersten Zeit waren alle mit gegenüber misstrauisch, weil ich in der Gefangenschaft gewesen war und ich wurde nicht sehr gut behandelt. Aber irgendwann Ende der 70er Jahre wurde ich ins Gebietswehrkommissariat bestellt und ich bekam einen Ausweis als Kriegsteilnehmer. Als ich diesen Ausweis in der Personalabteilung vorlegte, da hat sich der Personalchef bei mir vielmals dafür entschuldigt, dass er mich so behandelt hat, nur weil ich in Gefangenschaft war. Danach wurde ich schon ganz anders behandelt. Ich wurde auch zu Veranstaltungen am Tag des Sieges eingeladen und bekam Auszeichnungen. Und als ich im Jahr 2011 neunzig Jahre alt geworden bin, da ist eine Kommission zu mir nach Hause gekommen und hat mir eine Bescheinigung ausgestellt, dass ich Kriegsinvalide ersten Grades bin.

Heute werde ich von allen sehr gut behandelt, sowohl von Seiten der Bezirksverwaltung als auch vom Dorfsowjet.

Ich lebe alleine mit meiner Frau. Sie ist 84 Jahre alt, wir leben schon 66 Jahre zusammen. Unsere Kinder und Enkel besuchen uns. Ich habe vier Enkel und acht Urenkel. Leider haben wir aber unseren zweiten Sohn im Jahr 1997 verloren, er war 46 Jahre alt. Wir trauern sehr um ihn, aber das Leben geht weiter und wir müssen leben, so lange Gott es für uns vorgesehen hat.

Das wäre alles. Es würde mich sehr freuen, falls mein Bericht für Sie interessant sein sollte.

Mit den besten Grüßen,

Wladimir Danilowitsch

Aus dem Russischen von Valerie Engler