Tamara Kuz‘mininichna K. – Freitagsbrief Nr. 207

Belarus, Mogiljov

Guten Tag, lieber Gottfried Eberle und Sibylle Suchan-Floss!

Ich schreibe Ihnen, um Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge zu danken, dafür, dass Sie mir alles Gute wünschen und dass Sie sich um Menschen wie mich kümmern.

Ich habe 300 Euro von Ihrem Verein erhalten. Ich danke Ihnen für die materielle Unterstützung in unserer spannungsreichen Zeit. Ich danke Ihnen, dass Ihr junges Team sich Zeit nimmt für die älteren Menschen der Kriegszeit. Ich habe viel Lebenserfahrung, und ich weiß genau, dass das Gute, das man für die Menschen tut, mit Sicherheit dem Absender eine Antwort schickt. Von deutscher Seite lese ich natürlich zum ersten Mal in dem Brief von Ihnen Worte der Unterstützung und des Mitgefühls, des Verständnisses und der Entschuldigung. Es ist sehr erfreulich, dass die jüngere Generation der deutschen Bürgerinnen und Bürger das Leid und die Trauer versteht, die wir in den schweren Kriegsjahren ertragen mussten.

Auf jeden Fall gab es auch unter den deutschen Soldaten Menschen mit einem großen Herzen, die in uns schmutzigen, halbnackten, hungrigen und kranken Geschöpfen Kinder sahen. Sie gaben uns Medikamente, Kleidung und Lebensmittel.

Ich danke dem deutschen Soldaten, der mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Tafel Schokolade schenkte. Ich wusste nicht, was das war! Und was ich damit machen sollte. Er zeigte mir mit Gesten, dass ich das essen kann. Diesen schwarzen Schokoriegel und seinen Geschmack werde ich nie im Leben vergessen! Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte diesem mitfühlenden deutschen Soldaten in die Augen schauen, ihn umarmen und „Danke“ sagen. Aber es geschah noch etwas Anderes! Wie unterschiedlich können Menschen derselben Generation in einem Land sein! Ich kam von der Weide, führte eine Kuh am Strick, und ein deutscher Soldat schoss auf meine Füße, obwohl ich noch ein Kind war. Die Kuh erschrak und rannte in den Wald, und ich kam zur Behandlung ins Krankenhaus. Wir hatten nicht genug zu essen. Ich wollte eigentlich einfach nur Brot. Da es kein Mehl gab, buk meine Mutter (sie hieß Elena) Brot mit Sägemehl und Gras.

Die deutschen Soldaten fütterten die Pferde mit Hafer. Nachdem sich das Pferd entleert hatte, wuschen wir die unverdauten Haferkörner aus seinem Kot, wässerten sie mehrmals, und Mutter kochte etwas, das wie Gelatine aussah (eine dickflüssige, zähe Flüssigkeit). Wir tranken das und hielten uns die Nasen zu, nur um nicht zu sterben, um zu überleben.  

Meine Mutter erzählte mir, dass sie Kleidung aus Fallschirmstoff nähte. Anderes wurde aus Kleidungsstücken gemacht, die die Soldaten dagelassen hatten. Als unser Haus niedergebrannt wurde, halfen uns die Dorfbewohner, eine Grube zu graben. Wir machten ein Dach aus Balken und bedeckten diese mit Ästen. In diesem Unterstand schliefen wir praktisch unter freiem Himmel.

Der Name meines Vaters war Kuz‘ma. Als der Krieg begann, zog er an die Front, um sein Land zu verteidigen. Er schaffte es, mir und meiner jüngeren Schwester in Briefen (von denen ich einige aufbewahrt habe) bunte Bänder zu schicken, die wir uns in die Zöpfe flochten. Mein Vater kehrte nie nach Hause zurück. 1944 erhielten wir die Nachricht, dass der Unteroffizier des Panzerartillerie-Jagdflieger-Regiments gefallen war. Er erhielt eine Medaille für die Verteidigung von Leningrad.

Wenn Sie etwas Interessantes in dem Brief finden, habe ich nichts gegen eine Veröffentlichung. Noch einmal danke ich Ihnen für alles.

Herzliche Grüße

Tamara Kuz‘mininichna K.

P.S. Meine Tochter Elena hat mir geholfen, diesen Brief zu schreiben.