Soja Konstantinowna M. – Freitagsbrief Nr. 197 (Teil 1)

Mogiljow, Belarus
November 2021

Guten Tag, ihr unbekannten, aber geachteten und seelenverwandten Einwohner Deutschlands!

Mit Hochachtung vor Ihnen, Soja Konstantinowna aus der Stadt Mogiljow.

Ich freue mich sehr, dass Sie mit uns mitfühlen und uns verstehen können, und ich danke Ihnen dafür, dass Sie unseren Schmerz teilen.

Vielen Dank für die finanzielle Unterstützung. Ich habe 300 Euro erhalten. Ich bin Ihnen dankbar, aber die Beantwortung der Fragen nimmt einige Zeit in Anspruch. Ich entschuldige mich dafür.

Und nun zu mir und dem, woran ich mich erinnere: vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg.

Vor dem Krieg lebten wir in einem Dorf im Kreis Tschauskyj, Dorf Ostrowy, Siedlung Krasnojarok. Vor dem Krieg bestand unsere Familie aus sechs Personen: Vater, Mutter (1909), Schwester (1931) und zwei Brüder (1933 und 1937) und ich (1939), und die Großmutter lebte bei uns – Vaters Mutter. Wir lebten gut: Kuh, Pferd, Schafe, Schweine, verschiedene Geflügelarten, Bienen (Honig), Banja. Meine Mutter hatte fünf Brüder, sie war die Jüngste.

Alle gingen an die Front: Papa, die Brüder und vier Neffen – die Söhne der Brüder, sehr jung. Alle sind vermisst. Und auch alle Verwandten, die uns nahestanden.

Deutschland hat uns heimtückisch und unerwartet überfallen. Wenige Tage vor dem Krieg hatten Deutschland und die Sowjetunion einen Friedensvertrag geschlossen, dass sie niemals Feinde werden würden, und wir waren nicht darauf vorbereitet, in den Krieg zu ziehen. Aber wir wurden um 4 Uhr morgens (22. Juni) angegriffen, als alle friedlich schliefen. Sie begannen, schlafende Städte und Flugplätze zu bombardiere. Alle dachten, es handele sich um eine Art Fehler. Die Kommunikation war zerstört. Unsere Armee schlug erst um 6 Uhr morgens zurück. In dieser Zeit waren schon Tausende von unschuldigen Menschen gestorben. Und von uns gingen Güterzüge mit Getreide nach Deutschland. Sie brachten Korn nach Deutschland. Aber als unsere Armee zu sich kam und auch die Flugzeuge, die noch abheben konnten, schonten sich die Piloten nicht, wie Rammböcke flogen sie in den sicheren Tod, ohne ihr Leben zu schonen.

Ich erinnere mich, wie deutsche Motorräder in unser Dorf kamen – es war ein Horror. Zunächst töten sie die Bewohner nicht. Ich erinnere mich nur daran, dass sie ins Haus kamen und alle Lebensmittel mitnahmen: Milch, Eier. Unser Haus lag am Stadtrand, in der Nähe gab es eine Wiese. Da liefen viele Gänse herum, unsere und die der anderen Bewohner. Die Deutschen fingen sie ein, rissen ihnen die Köpfe ab, ich erinnere mich, wie sie noch ohne Kopf krampfhaft herumflatterten. Die ganze Wiese war voll von Gänseköpfen, wie mit Gänseblümchen. Das alles steht mir bis heute vor Augen. Dann kamen deutsche Flugzeuge angeflogen. Wir rannten aus dem Haus und versteckten uns, wo immer wir konnten. Alle Dorfbewohner gruben Bunker möglichst weit von den Häusern entfernt und versteckten sich dort. Eines Tages schafften meine Mutter und ich es nicht mehr rechtzeitig in den Bunker, und ein Flugzeug warf eine Bombe in der Nähe unseres Hauses ab. Das Haus war unversehrt und wir wurden nicht getroffen, aber die Kuh, die im Stallverschlag auf dem Hof stand, stellte sich vor Schreck und Angst kerzengerade auf die Hinterbeine und brüllte wild. Vor Angst hat sie sogar die ganze Wand vollgeschissen. Das alles habe ich in Erinnerung. Das Bombenloch ist immer noch da, aber es wohnt niemand mehr dort.

Danach gingen wir tagsüber in den Wald und abends nach Hause. Im Wald gruben wir Bunker und versteckten uns dort. Wer konnte, schloss sich den Partisanen an. So lebten wir eine gewisse Zeit; die Deutschen kamen vorbei, aber sie rührten uns nicht an. Der Neffe meiner Mutter, der Sohn ihres Bruders, der noch sehr jung war, schloss sich den Partisanen an. Ich erinnere mich, dass nachts die Partisanen zu uns kamen, wie ich jetzt weiß. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter gusseiserne 15- und 10-Liter-Kasserollen holte, das weiß ich noch. Sie buk Brot. Es blieb mir als sehr gefährlich in Erinnerung. Damals hatten wir noch Vieh, die Deutschen haben es uns nicht weggenommen. Ich weiß nicht, welches Jahr das war (43 ?).

Dann kam mein Vater, Konstantin, nach Hause. Er war gefangengenommen worden. Ich weiß nicht, wie lange er inhaftiert war. Ich habe nie gefragt – furchtbar. Nur meine Mutter sagte, dass er so dünn war, dass sie ihn nicht sofort erkannte. Er war irgendwie aus der Gefangenschaft entkommen. In Gefangenschaft hatten sie Kartoffelkraut gegessen. Seine Speiseröhre war so ausgetrocknet, dass er kaum einen Löffel Brühe hinunterschlucken konnte.  Mutter heilte ihn mit großer Mühe. Damals wurde im Dorf Kopani im Bezirk Tschauskyj eins unserer Flugzeuge abgeschossen, aber der Pilot überlebte, obwohl er völlig verbrannt war. Er landete in unserem Wald. Wie mein Vater ihn gefunden hat, weiß ich nicht. Aber er entschloss sich zusammen mit meiner Mutter, Evdokia, so hieß sie, ihn zu retten. Wir konnten ihn nicht mit nach Hause nehmen. Mein Vater zog zwei junge, zuverlässige Männer ins Vertrauen, (selbst ihre Eltern wussten es nicht), es war gefährlich. Sie gruben einen Bunker im Wald und deckten ihn mit Baumstämmen ab, denn es war für lange Zeit. Der Pilot hatte schwerste Verbrennungen erlitten. Es war ungefähr im Jahr 42 oder 43. Ich weiß es nicht genau. Er wurde von meinem Vater und meiner Mutter von Frühling bis Herbst gesund gepflegt. Ich weiß nicht, wie viele Monate, meine Mutter versuchte mehrmals, es mir zu erzählen, aber ich habe sie davon abgehalten – es ist doch schwer, sich daran zu erinnern – und jetzt bereue ich es. Vater ging jeden zweiten Tag zu ihm in den Wald, brachte ihm Essen und gab ihm Kleidung. Zur Tarnung nahm er einen Strick mit, wie zum Holz holen, und zog weite Kleider an, um alles zu verstecken. Dass das Pferd auf dem Hof blieb, war allerdings verdächtig. Er brachte eitrige Verbände nach Hause mit, sagte meine Mutter. Mama wusch sie. Aus Birkenholz, Asche, Lauge machte sie Seife und legte sie zum Sterilisieren in den Ofen. All dies tat sie so, dass niemand, nicht einmal die Kinder, es sehen konnte. Ein Kalb wurde extra geschlachtet, nur für den Piloten. Meine Mutter sagte, dass er Fleisch brauche, aber wir Kinder bekamen kein Fleisch, wir durften es nicht essen, also wussten wir nichts davon. Die Beine und der Kopf wurden vergraben, damit niemand etwas merkte. So groß war die Angst. Meine Mutter hat es nie jemandem erzählt, auch nicht nach dem Krieg. Sie war nicht einmal der Meinung, dass sie und mein Vater eine Heldentat vollbracht hatten, wie ich das heute sehe. Der Pilot überlebte und beschloss, die Frontlinie zu überqueren und zu seiner Truppe an die Front zu gehen. Aber dann änderte der Pilot seine Meinung und sagte, dass er allein gehen würde, denn als Gruppe war es gefährlich, weil die Jungs, die beim Ausheben des Bunkers geholfen hatten, beschlossen, auch zu gehen. Papa gab ihm seine eigene Kleidung und er ging. Papa und die Jungs machten sich am nächsten Tag auf den Weg, aber an diesem Tag gab es eine Razzia in den Wäldern, – und sie wurden im Frühjahr tot im Wald aufgefunden. Vorher hatte es keine Gelegenheit gegeben, nach ihnen zu suchen.

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarov

Teil 2