Nadeshda Dmitrievna T. – Freitagsbrief Nr. 69

Belarus, Gebiet Mogiljow

Guten Tag,

ich heiße Nadezhda Dmitrievna T. und war früher wohnhaft im Dorf Ermolovitchi, Bezirk Belynitchskij im Gebiet Mogiljov.

Sie haben darum gebeten, dass ich aufschreibe, was ich über den Krieg weiß. Ich war 10 und erinnere mich an den ganzen Krieg. Am zweiten Tag des Krieges kam in der Dämmerung ein deutsches Flugzeug heran. Wir wohnten an der Minsker Landstraße. Das Flugzeug warf 7 Bomben ab. Der Hirte trieb gerade die Kühe von der Weide nach Hause. Die Bomben töteten ihn und eine Kuh, auch eine Frau kam um. Das geschah vor meinen Augen.

Früh am Morgen wachten wir vom Geräusch eines Personenwagens und eines Motorrads auf. Sie fuhren in unseren Hof. Sie fesselten einen Eber und nahmen einen Eimer Eier an sich. Meine Eltern hatten 6 Kinder, sie hatten ein großes Doppelhaus. Neben uns wohnte unser Großvater; er hatte 40 Bienenstöcke mit Bienen. Sie vernichteten die Bienen, setzten den Großvater auf einen Bienenstockund schossen. Sie brachten ihn zwar nicht um, aber versetzten ihn in einen derartigen Schrecken, dass er zwei Wochen später durch den Stress starb.

Im Herbst 43 wurde unser Dorf abgebrannt. Meine Eltern gingen mit uns Kindern in das 3 Kilometer entfernte Dorf Tualin. Dort lebten wir bis Mai 1944. Als die Deutschen auf dem Rückzug waren, brannten sie das ganze Dorf Tualin bis auf ein einziges Haus ab, die Einwohner flohen in alle Richtungen. Wir hielten uns lange in einem Sumpf auf. Unsere Eltern starben. Wir Kinder blieben allein.

Ich erinnere mich daran, wie früh am Morgen ein sowjetisches Flugzeug heranflog. Auf dem Flugzeug waren Sterne aufgemalt und es ertönte die sowjetische Hymne. Wir wurden aufgefordert, an der linken Seite der alten Landstraße die Verteidigung gegen den Feind zu übernehmen.

Nach der Befreiung der Dörfer kam der verwundete Kolchosvorsitzende von der Front. Er sammeltealle Kinder auf und fuhr sie auf dem Pferdewagen ins Waisenhaus. Wir alle, unsere Schwester und die Brüder wuchsen im Waisenhaus auf.

Ich bin jetzt 87 Jahre alt. Ich bin krank, ich brauche ein neues Gelenk, aber ich habe kein Geld. Bitte lehnen Sie mein Ansuchen nicht ab.

Hochachtungsvoll, Nadezhda Dmitrievna T., ehemalige Einwohnerin des Dorfs Ermolovitchi.

Übersetzung Karin Ruppelt