Leonid Michajlowitsch T. – Freitagsbrief Nr. 184

Gebiet Cherson, Ukraine
Januar 2021

Es schreibt Ihnen  Leonid Michajlowitsch T., geboren 1939, der sich während des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945) auf der besetzten Krim in der Stadt Feodossija und im Dorf Rosalijewka im Kreis Kirowograd aufhielt.

Vor allem danke ich jedoch dem Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI, dass Sie mir Unterstützung gewähren. Es kam mir sehr gelegen. Großen Dank!

Als der WOW begann, wohnte meine Familie (Großmutter, Mutter, Vater, meine Schwester Zhanna, mein Bruder Jakow und ich) in der Stadt Feodossija, in der Revolutionsgasse 18.

Am 1. Juli 1941 wurde mein Vater in die Rote Armee eingezogen. Anfang November 1941 erfuhr die Besatzungsmacht nach der Denunziation durch eine Frau von der Nationalität meines Vaters und wir waren gezwungen, uns zu verstecken. Auf der Stelle fuhren wir: ich, meine Schwester und mein Bruder, nachts bei strömendem Regen auf einem Fuhrwerk (einem von Pferden gezogenen Wagen) zum Dorf Rosliewka, 18 km entfernt von Feodossija, und blieben im Keller einer verlassenen Dorfschule, wo wir uns versteckten bis zum April 1944. Was kann ich über diese schlimme Zeit erzählen? Wir Kleinen konnten das natürlich nicht vollkommen verstehen, aber einige Begebenheiten haben sich für das ganze Leben eingeprägt. Zuallererst auf der Fahrt zum Dorf der Regenguss, der grauenhaft kalte Regen, der heftige und durchdringende Wind. Wir waren vollkommen durchnässt, bis auf das kleinste Fädchen, wie man so sagt. Wir klapperten mit den Zähnen. Es war in der Tat tiefster Herbst. Der Keller sollte die Rettung sein. Allein, auf uns wartete eine Enttäuschung – im Keller war es durch ein undichtes Dach pitschnass, es gab Pfützen und Wasser tropften von oben durch die Ritzen im Boden des Raumes, unter dem der Keller lag. Von diesem Keller hat sich mir eingeprägt: eine überwältigende, dunkle Kälte und Feuchtigkeit. Eine große breite hölzerne Treppe, eine Luke und Spalten zwischen Brettern, durch die das Licht schimmerte. Das hat mich immer fasziniert.

Nach den Berichten der Erwachsenen wurden am Tag nach unserer Flucht alle Juden in Feodossija (2000-3000 Menschen) erschossen. Und hier liefen überall Ratten quer durch den Keller. Niemals werde ich vergessen, wie ich die ganze Zeit so nach Essen verlangte, dass ich Magenkrämpfe bekam. Ganz oft weinte ich. Mit der Schwester kümmerte ich mich abwechselnd um unser kleines Brüderchen und mit Ungeduld warteten wir auf die Rückkehr unserer Mutter mit Lebensmitteln. Nach zwei oder drei Wochen begann die Bombardierung des Dorfes. Alles dröhnte, pfiff, zitterte. Wir drückten uns an unsere Mutter und ließen sie nicht los. Es war sehr beängstigend. Im Dorf war vieles zerstört, aber zum Glück wurde die Schule nicht besonders schwer getroffen.

Viele grauenhafte und unvorhergesehene Situationen passierten in der Zeit unseres Aufenthalts im Keller, aber an eine darunter erinnere ich mich am deutlichsten: als an einem Sommertag entweder rumänische oder deutsche Soldaten begannen, sich in der Schule niederzulassen. Lärm, Getrappel von Füßen, Schreie und das alles über unseren Köpfen. Mein Schwesterchen Zhanna (die Älteste von uns) beruhigte meinen Bruder und mich die ganze Zeit flüsternd und legte den Finger auf die Lippen (wie Mama). Unsere Mutter erkannte zu diesem Zeitpunkt rückblickend [mit Besorgnis], dass die Soldaten, die die Schule besetzt hatten, sie fast 24 Stunden nicht verlassen hatten. Aber ein glückliches Schicksal rettete uns. Der eiligen Versammlung und den strengen Befehlen nach zu urteilen, verließ das Militär schnell die Schule. Wie groß war die Freude!!! Unvergesslich war der Eindruck, den die Befreiung des Dorfes auf mich machte. Als Erstes wurden wir aus dem Keller herausgeführt. Als Zweites sagte unsere Mutter, dass wir nach Feodossija gebracht werden und machte sich auf den Weg. Auf der Straße waren eine Menge Menschen, Fahrzeuge. Alle redeten angeregt über irgendetwas und freuten sich. Plötzlich jagten mit großer Geschwindigkeit (oder so schien es mir) Panzer auf der Straße heran und wurden scharf vor der Menge zum Stehen gebracht. Eine Hitzewolke umhüllte Menschen und Panzer. Und dann begann – Umarmen, Küssen, gegenseitiges Hochheben, Werfen von Feldmützen, Schießen, Pfeifen und Tanzen. Kurz, ein allgemeiner Jubel. Das erinnere ich von der Befreiung.

Die Erinnerungen meiner Mutter (sie starb 1976) waren in der Tat nicht zu beschreiben. Sie hatte nicht die Kraft, über diese Zeit zu sprechen. Und wenn sie sich erinnerte, begann sie zu weinen und drückte uns (auch als wir schon erwachsen waren) an ihre Brust. Sie erzählte mit großen Unterbrechungen, was für uns nach der Befreiung schmerzhaft war zu sehen. Sie war dünn, blass, Hände und Füße zart wie Stöckchen, sah sie mit gerunzelter Stirn auf alles, ging zu niemandem, alle kauerten zu ihren Füßen. Meine Mutter sagte ganz offen, dass sie die ganze Zeit Menschen um Almosen bitten musste, um uns zu ernähren. Sie verdingte sich bei Menschen für jede beliebige Arbeit für ein Stück Brot.

Insgesamt schrecklich und kränkend für uns, ihre Kinder, wenn wir uns zurückerinnern an ihre Leiden.

Entschuldigen Sie, dies ist sehr schwer zu schreiben.

Niemandem auf der Welt wünsche ich, dass er so etwas erleben muss.

Und gebe der HERR, dass sich dieses nicht wiederholt.

Nochmals Entschuldigung für diesen derart schmerzhaften Brief.

Seien Sie gesund und glücklich! Viel Erfolg!

Hochachtungsvoll T. L.M.

Übersetzung aus dem Russischen Sibylle Suchan-Floß