Isolda Arnoldowna S. – Freitagsbrief Nr. 185

Ukraine, Charkow
2017

Ich, S. Isolda Arnoldowna, wurde am  1933 in Charkow geboren.

Vor dem Krieg lebte ich mit meinem Vater M. Arnold Radionowitsch und meiner Mutter Ch. Alexandra Dmitrijewna in der […] Straße  in Charkow.

Am 22. Juni 1941 begann der Krieg. Im August 1941 zerstörte eine Bombe unser Haus, dabei starb meine Mutter, unsere ganzen Sachen und Dokumente wurden vernichtet. Mein Vater und ich zogen zu meiner Großmutter, M. Etel Issaakowna, in die Puschkinstraße. Im Oktober 1941 besetzten die deutschen Truppen Charkow, und am 15. Dezember wurden alle Juden auf das Gelände einer Traktorenfabrik außerhalb der Stadt gejagt. Dort, hinter Stacheldraht, im Ghetto, befanden sich ungeheizte Baracken ohne Wasser, ohne Betten. Der Winter in jenem Jahr war furchtbar kalt. Ich ging mit meinem Vater und meiner Großmutter in dieser langen, breiten, stöhnenden Menschenmenge durch die ganze Stadt, und nebenher liefen Deutsche mit Maschinengewehren und Hunden. Wer nicht mehr laufen konnte, fiel hin, und die Deutschen feuerten einen Schuss ab. Vater führte meine schwache Großmutter und zog einen Schlitten, auf dem Bündel mit Sachen und ein klein wenig zu essen lag. Ich hatte Angst und großen Hunger. Als wir ankamen, richtete Vater für meine Großmutter in einer Ecke ein Lager ein, legte sie hin und deckte sie mit irgendetwas zu. Mir gab er einen Zwieback und ging mit mir nach draußen.

Es waren viele Menschen dort, die einen suchten sich einen Platz zum Schlafen, andere verabschiedeten sich von ihren Angehörigen. Es gab Mischehen, wo der Mann Jude war und die Frau Russin, oder umgekehrt. Wer kein Jude war, sollte wieder in die Stadt zurückgehen, und mein Vater wollte, dass mich irgendwer mitnahm und rettete, mich zu der Schwester meiner Mutter brachte: Ch. Marina Nikititschna. Sie wohnte in der […] Straße. Er fragte die Leute hinter dem Stacheldrahtzaun, flehte sie an – nehmt mein Mädchen mit, rettet sie. Aber alle hatten Angst, das zu tun, die Deutschen hätten auf der Stelle geschossen, wenn sie das mitbekommen hätten. Ich weinte, ich hatte Angst, ohne meinen Papa zu gehen, aber er tröstete mich, sagte: „Kätzchen, ich komme in 2-3 Tagen nach, jetzt geht es nicht anders.“

Ein paar Tage lang wollte ihm das nicht gelingen. Wir schliefen auf dem Boden, wir froren fürchterlich. Am Tag kamen immer Menschen aus der Stadt, die ihren Angehörigen zu essen brachten, wir hatten niemanden, der das tun konnte. Ich sah Mädchen, die im Haus meiner Großmutter wohnten, in der Wohnung Nr. 2, sie kamen mit ihrem Vater und brachten ihrer Mutter mittags etwas zu essen. Ihr Vater war Ukrainer, die Mutter war Jüdin. Früher hatte ich mit ihnen gespielt, jetzt waren wir auf verschiedenen Seiten des Stacheldrahtzauns. Ich weiß noch, dass mein Papa mit ihrem Vater schimpfte, weil er seine Töchter, Inna und Maja, dorthin mitbrachte.

Nach zwei oder drei Tagen fand mein Vater einen Mann, der einwilligte, mich mitzunehmen. Oh, ich hatte solche Angst! Wir wurden von anderen Leuten umringt, mein Vater hob den Stacheldraht etwas an und schubste mich dahinter. Der Mann packte mich sofort an der Hand, sagte, er hieße Onkel Kolja, und mein Vater sagte mir, dass ich meinen Namen vergessen sollte, ich hieße ab jetzt Soja.

Ich sah zum ersten Mal, wie mein Vater weinte. Wir gingen schnell in Richtung Stadt, damit wir es noch vor der Sperrstunde schafften. Ich wollte zu meinem Papa zurück und weinte leise, aber ich hatte Angst, dass Onkel Kolja es mitbekommen würde.

Ich habe meinen Vater und meine Großmutter seitdem nie wiedergesehen. Die Deutschen vergasten sie in den Gaswagen, in denen sie 30.000 Juden ermordet haben: Frauen, Kinder und Alte. Ihre Leichen wurden in eine Schlucht geworfen, die heute Drobizki Jar heißt. Ein Obelisk steht heute dort.

Fast schon im Dunkeln kamen wir bei Tante Marina an. Onkel Kolja gab mich dort ab mit den Worten: „Hier, nehmen Sie Ihr kleines Waisenmädchen“, und ging schnell weg.

Ich hatte einen Lockenkopf. Meine Tante schnitt es mir sofort mit einer Schere ab, damit man mich nicht als Jüdin erkannte. Jeden Tag wurde patrouilliert, geschaut, ob sich auch nirgendwo Partisanen oder Juden versteckten.

Gegenüber von unserem Haus war ein deutsches Krankenhaus. Die Küche befand sich im Souterrain. Wir Kinder kamen immer mit leeren Konservenbüchsen hierher, fragten nach Essensresten, die von den Patienten übrig waren. Ich erinnere mich bis heute an den Namen des Kochs, Jusef. Er schüttete uns durchs Fenster Suppe ein und gab uns Brotreste. Davon lebten meine Tante und ich. Ab und zu ging ich auch auf dem Markt betteln.

Die Stadt stand unter schwerem Bombenbeschuss, dann kamen unsere Truppen. Dann, sehr schnell, nahmen die Deutschen die Stadt wieder ein. Im August 1943 verjagte man die Deutschen. Tante Marina war verletzt und brachte dringend Hilfe. Unsere Nachbarin kam zu uns herüber und half, sie riet meiner Tante, mich ins Kinderheim zu geben, denn ich sollte zur Schule. In der Kinderaufnahmestelle wurde ich dem Kinderheim Krasnokutsk im Gebiet Charkow zugeteilt.

1945 wurde ich an der Fabrikschule des Charkower Tauwerks aufgenommen, wo ich danach bis zu meiner Pensionierung arbeitete.

1955 heiratete ich D. Pjotr Nikolajewitsch. Er entpuppte sich als Alkoholiker, prügelte sich oft, und das Schlimmste – er beschimpfte mich und unseren Sohn als „dreckige Juden“. Ich ließ mich von ihm scheiden und lebte dann in einem Wohnheim. Damit mich niemand mehr beleidigte, änderte ich meinen Nachnamen …, sodass niemand mehr meine Kinder als Juden beschimpfen konnte. Das war 1962, und 1965 heiratete ich wieder – S. Wassilij Jakowlewitsch, wir haben eine Tochter – Wiktorija. So lebe ich bis heute, habe schon zwei Enkelkinder: Saschenka und Maschenka.

Einmal hat mich in Charkow Tatjana Tschajka besucht und meinen Bericht über den Krieg und das Ghetto für den amerikanischen Fonds „Spielberg“ auf Tonband aufgezeichnet.

Es wurde ein Buch der Erinnerung von Sokolskij P. P. geschrieben: „Skashi Drobizkoj JAR…“. Darin sind alle Gräueltaten bei der Vernichtung der Juden im Charkower Ghetto beschrieben. Viele Opfer sind in diesem Buch namentlich genannt, er hat die Daten aus dem Archiv bezogen. Auch mein Name ist dort verzeichnet, als Todesopfer im Drobizki Jar.

[Unterschrift]

Aus dem Russischen von Jennie Seitz