Olga Pawlowna M. – Freitagsbrief Nr. 164

Riwne, Ukraine

Die im Brief erwähnte Stiftung „Gegenseitige Verständigung und Toleranz“ ist auch unsere Partnerin. Die soziale Betreuung der ehemaligen minderjährigen Häftlingen wird ermöglicht durch Zuwendungen der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.

Sehr geehrte Gottfried Eberle und Sibylle Suchan-Floß!

Ich danke Ihnen und allen Mitgliedern des Vereins, dass Sie mir mit Medikamenten und medizinischen Geräten geholfen haben. Für mich ist das besonders wertvoll angesichts der Pandemie und der schweren Wirtschaftskrise in unserem Land. Danke für Ihre freundlichen Gefühle und Ihr Verständnis für das, was unsere Eltern und wir während des Krieges und danach durchmachen mussten. Ich teile Ihre Überzeugung, dass Menschen und Nationen sich gegenseitig respektieren und helfen sollten, aber sich nicht versklaven und gegenseitig zerstören.

Was meine Erinnerungen an den Krieg angeht, so sind sie sehr spärlich, denn ich war erst zwei Jahre alt, als die Besatzer in unser Land kamen. In Österreich, wohin unsere Familie 1943 verschleppt war, arbeiteten unsere Eltern 12 Stunden am Tag in einer Ziegelfabrik, und wir, vier Kinder, wobei das älteste noch nicht sechs Jahre alt war, saßen ständig allein, ohne Aufsicht, hungrig, frierend und ohne viel Bewegung in den Baracken, da es strengstens verboten war, zu rennen, zu springen, sogar laut zu weinen und nach der Mutter zu rufen. Wenn Bomben und Schüsse fielen, versteckten wir uns unter dem Bett und warteten, bis unsere Mutter mit Brot kam. Diese Gefühle der Angst und des Hungers blieben für immer in mir.

Und ich erinnere mich auch an das traurige, immer müde Gesicht meiner Mutter und sehe es vor mir, mit Tränen in den Augen. Am besten erinnere ich mich an die folgende Episode, von der ich später oft träumte: Wir waren in einem Wagen unterwegs, und auf beiden Seiten der Straße waren viele Menschen, die uns freudig zujubelten, sangen und zuwinkten. Die Sonne schien und alles war so ungewöhnlich hell und schön. Viele Jahre später, als das Thema nicht mehr tabu war, erzählte mir meine Mutter, dass wir damals nach Hause kamen. Es war im Mai 1945.

Der Krieg war für viele Jahre in unseren Köpfen, in unserem Inneren, und ist noch immer  dort. Er hat uns nicht nur unsere Kindheit geraubt, es hat unsere Seelen für immer verformt, uns Angst, Unsicherheit und Misstrauen gegenüber Menschen eingeimpft. Das lässt sich nicht einfach und nicht schnell heilen. Wahrscheinlich haben wir auch etwas an unsere Kinder weitergegeben. Wir wollen das alles für immer vergessen. Ich hoffe, es wird für die nächsten Generationen vergessen sein.

Ein paar Worte über unsere Abteilung der Internationalen Stiftung „Gegenseitige Verständigung und Toleranz“, deren Mitarbeiter sich seit vielen Jahren um uns alte und gebrechliche (auch liegende) Menschen kümmern und uns helfen, in der heutigen turbulenten, militanten und so instabilen Welt zu überleben.

Dank Ludmila Dmitriewna S. (der Leiterin unserer Gesellschaft) und ihrer treuen Assistentinnen Ljubow Iwanowna und Nona Alexandrowna ist unser Leben voller interessanter und nützlicher Begebenheiten: wir machen Ausflüge, treffen bekannte Leute, feiern, sitzen zusammen beim Tee. Jeden Monat kommen Ärzte zu uns und beraten uns zu  aktuellen Themen. Wir fühlen uns nicht im Stich gelassen und vergessen. Ihr aufmerksames, fürsorgliches und einfühlsames Verhalten gibt uns Lebenskraft, Zuversicht und verlängert im Allgemeinen unser Leben. Selbst jetzt, wo wir wegen des Coronavirus eingeschränkte Treffen und Versammlungen haben, rufen sie oft an, unterstützen uns mit einem freundlichen Wort und geben uns Hoffnung. Dafür lieben und respektieren wir sie und danken wir ihnen.

Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und eine erfolgreiche Arbeit zum Wohle der Menschen.

Mit freundlichen Grüßen.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt