Schtschedrinskij Jakow Matwejewitsch – Freitagsbrief Nr. 93

Russland, Gebiet Moskau
Juni 2007

Sehr geehrter Herr Gottfried Eberle, sehr geehrter Herr Eberhard Radczuweit, sehr geehrter Herr Dmitrij Stratievski!

Es hat mich sehr berührt, dass es in Deutschland Menschen gibt, die nicht nur den von der faschistischen Diktatur angezettelten Krieg verurteilen, sondern auch mit den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, die solch Leid erleben mussten, aufrichtig mitfühlen.

Ich schreibe „sowjetische“, weil dort Leute aller Nationalitäten waren: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Kasachen, kurz die Angehörigen aller Nationalitäten der ehemaligen Sowjetunion.

Ich danke Ihnen sehr, dass Sie diese kleine, private Organisation gegründet haben und diese sehr schwierige Arbeit zur Unterstützung der ehemaligen Kriegsgefangenen machen. Ich bin während der Verteidigung von Sewastopol Ende August 1942 in Gefangenschaft geraten. Die Stadt wurde so stark zerstört, dass kein einziges Haus mehr stand. Eine ganze Armee geriet in Gefangenschaft. Die ersten Grausamkeiten musste ich miterleben, als die deutschen Soldaten und Offiziere Politoffiziere (sie nannten sie Kommissare) und Juden heraussuchten – sie schlugen sie mit Stöcken – nie werde ich das Stöhnen und die Schreie vergessen. Dann erst töteten sie die Geschlagenen. In den Durchgangslagern passierte das Gleiche – sie suchten die Kommissare und Juden heraus, schlugen sei grausam und dann erschossen sie sie, vor allem im Lager in Düsseldorf. Es sind schon 60 Jahre seitdem vergangen, aber ich werde die Gräueltaten, die ich vor allem im Lager Düsseldorf miterleben musste, nie vergessen. Hunger, Kälte, die Baracken völlig überfüllt, wir schliefen auf dem nackten Boden, aneinander gepresst, ungewaschene und schmutzige Menschen, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatten. Danach das Lager Nr. 326 [Sennelager], dann Bocholt [Stalag VIF], Düren [Stalag VI G/Z Arnoldsweiler]. All das war im Zeitraum bis Ende 1942.

Im Januar 1943 wurde ich mit einer kleinen Gruppe Kriegsgefangener nach Aachen zur „Peters Fabrik“ [F. und J. Peters Apparate- und Maschinenbau GmbH] gebracht. Das war kein Kriegsbetrieb, sondern eine Fabrik, in der Maschinenteile aus Metall für Zerkleinerungsmaschinen produziert wurden. Ich wurde einem Arbeiter, einem Elektriker und Gasschmelzschweißer, zugeteilt, der aus Stahlblechen Kegel für Schrotmaschinen schweißte. Ich blieb dort bis September 1944. Ich war der Gehilfe dieses Arbeiters, er hieß Josef Bakes. Ich bin ihm sehr dankbar, bei ihm brauchte ich nicht zu verheimlichen, dass ich Offizier im Range eines Leutnants war und dass ich durch eine Verletzung während eines schweren Gefechts in Gefangenschaft geraten war. Ich habe versucht, Josef Bakes zu finden, aber zur Zeit des eisernen Vorhanges war es einfach nicht möglich. Ich würde seinen Söhnen und Enkeln gerne sagen, dass er ein guter Mensch war, er hat mir zusätzliches Essen gegeben, so viel er konnte.

Als die Alliierten anrückten (die zweite Front), wurden wir von Westen nach Osten transportiert, zuerst ins Lager Mühlberg, dann nach Mückenberg (ins Dorf Bockwitz) [Lauchhammer] zum Torfstich Bubiag [Braunkohlen und Bricket-Industrie AG]. Am 23. April 1945 wurde ich von sowjetischen Truppen befreit.

Ich lebte in Moskau, meine Eltern weinten vor Glück, als ich zurückkehrte. Jetzt sind sie nicht mehr am Leben. Ich habe das Moskauer Institut für Lebensmitteltechnik abgeschlossen und danach als leitender Ingenieur in einer Brotfabrik gearbeitet, in der ich bis heute arbeite, jetzt aber in beratender Funktion. Ich bin schon 89 Jahre alt und nach all dem, was ich durchlebt habe, steht es um meine Gesundheit natürlich nicht zum Besten. Ich habe Arthritis und Arthrose in den Kniegelenken. Aber ich halte mich wacker und arbeite.

Ich danke Ihnen allen für Ihre Hilfe und für Ihre dringend gebrauchte Arbeit und wünsche Ihnen Gesundheit und Erfolg bei der Arbeit und im Privatleben.

Jakow Schtschedrinskij

Aus dem Russischen von Valerie Engler