Watschik Howhannisjan – Freitagsbrief Nr. 135

Armenien, 2009

Sehr geehrter Herr Radczuweit, sehr geehrte Mitglieder von KONTAKTE/KONTAKTY, es war mir wie ein Traum, als ich von der Leitung des armenischen Vereins der ehemaligen Kriegsgefangenen von Ihnen und Ihrem Verein hörte, und als gewisse Anerkennung meiner Leiden in der Kriegsgefangenschaft von Ihnen eine Summe von 300 Euro erhielt. Es war mir ein außergewöhnlicher Freudentag, denn ich hätte mir zuvor gar nicht vorstellen können, dass diese Schreckensgeschichte, die den ehemaligen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs beschieden war, in Deutschland noch offen und aktuell ist. Jetzt fühle ich mich von der Überlast dieser Geschichte erleichtert, und bin Ihnen für Ihre finanzielle, moralische und seelische Unterstützung sehr dankbar…

Ich, Watschik Howhannisjan, bin am 16. November 1918 in Armenien, in der Stadt Kalinino geboren. Als Absolvent des polytechnischen Instituts Jerewans war ich schon nach Gjumri gefahren, um dort eine Arbeitsstelle zu bekommen, als der Krieg ausbrach, und ich in die Armee einberufen wurde. Zuerst wurde ich nach Nordkaukasus geschickt. Von dort brachte man uns in Richtung Belarus: Es war nicht weit von Minsk, als bei einer schweren Schlacht unser Regiment eingekesselt wurde, und am 8. Juli gerieten wir in Kriegsgefangenschaft. Wir, die Gefangenen, waren an Zahl vielleicht mehr als 50 000. Man trennte von uns denjenigen, die Juden waren oder als solche galten, denn es fand kaum ein richtiges Verhör oder eine Untersuchung statt, und sie wurden nicht weit von uns, an einer kleinen Schlucht erschossen und nach unten geworfen, wo es ein Flüsschen gab. Nachdem wir fünf Tage nichts zu essen oder zu trinken bekommen hatten, und viele von uns innerhalb dieser Tage wegen der Schwäche oder Verwundungen schon gestorben waren, bildete man kleine Gruppen von je drei Personen, die unter Bewachung zum Flüsschen gehen und Wasser holen durften. Als sie zurückkamen, konnten sie vom Schrecken kaum sprechen. Das Flüsschen war voller Leichen, die dort hingeworfen waren und das trübe Wasser hatte solch einen Gestank, dass es gar nicht einfach war, es zu trinken. Dazu gab man uns täglich etwas Brot oder dürre Fische, und zwar in solch einer Weise, dass wir es selbst unter uns zu verteilen hätten. Die Drängeleien und Schlägereien, die dann begannen, kann ich kaum beschreiben. Die Schwächeren bekamen wieder nichts zu essen, und der Hunger machte seine Arbeit weiter. Zwei Monate blieben wir dort, unter dem freien Himmel auf diesem mit Stacheldrähten umgebenen Feld. Bald begann auch die Kälte, die ebenso die Schwächsten zum Tode brachte. Öfters beneideten wir sie dafür, dass sie nicht mehr zu leiden hatten. Einmal versuchten vier Personen eines von mir nicht weit gelegenen Platzes, zu fliehen. Sie wurden aber wieder gefangen und zusammen mit weiteren 15 Kameraden, die angeblich über die Flucht informiert waren und sie verschwiegen, nach vielen schweren Knutenschlägen erschossen. Ob und wie konnte man erfahren, dass diese 15 von der Flucht Bescheid wussten, konnte niemand von uns ahnen, denn die Erschießungen geschahen in aller Eile, in einer frühen regnerischen Morgenstunde, und es fand gar kein Verhör statt.

Mehr als die Hälfte der Gefangenen waren dort schon gestorben, als eines Tages man uns befahl, zu Fuß bis zu einem Waldlager, das etwa 50 km entfernt war, zu marschieren. Auf dem Wege dorthin wurden die Schwächsten und die Kranken wieder erschossen. In diesem Lager bekamen wir täglich etwas Balanda und 100 Gramm Brot. Dort mussten wir von früh bis spät arbeiten, was uns aber ein Glück schien, weil wir uns manchmal von Waldfrüchten ernähren konnten. Dann bin ich mit einem Teil meiner Kameraden nach Polen gebracht worden, wo ich zunächst im Lager von Krakau und etwas später in dem von Katowitz geblieben bin. Dort arbeiteten wir zumeist in den Kohlenschächten. Es war eine extrem anstrengende Arbeit, die vielen meiner Kameraden das Leben kostete. Wir waren erschöpft, und sobald einer von uns nicht mehr imstande war, die Schaufel richtig zu bewegen, wurde er grausam geschlagen und wenige Minuten darauf erschossen. Wir befanden uns in einer wahren Hölle. In der Zeit, wo wir außerhalb von Schächten arbeiten mussten, versuchten wir, uns mit allem erreichbaren zu ernähren.

Nach wenigen Monaten brachte man uns in die Tschechoslowakei, wo ich im Lager Bilinowka blieb. Hier haben wir unterschiedliche Arbeiten, hauptsächlich aber Straßenarbeit machen müssen. Die Ernährung war hier etwas besser. Wir bekamen täglich 200 Gramm Brot und etwas Suppe. Auch die Bevölkerung verhielt sich zu uns ziemlich freundlich. Es gab manche Fälle, wenn man uns unauffällig Brot und Früchte gab. Unter unseren Bewachern und Offizieren war einer, der von allen geliebt wurde. Bei seiner Anwesenheit konnten wir uns freier fühlen, und er verbot uns nicht, gegebenenfalls etwas Essbares von den Einwohnern zu nehmen. Von dort wurden wir nach Deutschland geschickt, wo ich bis zum Kriegsende in Frankfurt, Hamburg, dann in Salzburg (?) Zwangsarbeit leistete. Wir machten ganz unterschiedliche Arbeiten. Im Mai 1945 wurden wir von den amerikanischen Truppen befreit und nach einem Monat den russischen Truppen übergeben. Noch acht Monate blieb ich im Militärdienst, wonach die Demobilisation erfolgte. Ich kehrte nach Armenien zurück, heiratete dort und war noch auf der Suche nach einer Arbeit, als eines Tages man mich festnahm und als so genannten „Vaterlandsverräter“, der „mit Deutschen zusammen gearbeitet hätte“ nach Sibirien verschickte. Noch weitere 6 Jahre verbrachte ich in Sibirien, wo die Situation mir manchmal schlimmer erschien als die in der Kriegsgefangenschaft. Aber Gott hat mich weiter leben lassen, und diese zweite Hölle konnte ich ebenso überleben.

Mit herzlichen Grüssen

Watschik Howhannisjan

Übersetzung: Dr. Aschot Hayruni

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