Leonid Iosifowitsch Statkewitsch – Freitagsbrief Nr. 136

Gebiet Winnyzja, Ukraine
11.2005

Sehr geehrte Herren Gottfried Eberle und Eberhard Radczuweit!

Den Brief aus Berlin mit Datum 03.06.2005 habe ich bekommen.

Ich bin erstaunt und danke den einfachen deutschen Bürgern die sich entschlossen haben, als wahre Hilfe für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene ein Opfer zu bringen. Es gibt ein russisches Sprichwort: „Teuer ist mir dein Geschenk, teuer deine Liebe.“

Sechzig Jahre sind seit dem Kriegsende vergangen. In dieser Zeit wuchsen unsere Kinder und Enkel auf, und es gibt schon Urenkel. Mit meiner Frau habe ich 6 Kinder, und es gibt 12 Enkel und 6 Urenkel. Die ganze Familie besteht aus 36 Personen.

Wir, d.h. ich und meine Kameraden haben verziehen was wir durchmachen mussten.

Wir hegen keinen Zorn auf die Bürger Deutschlands.

Die neue Generation ist für den Faschismus nicht verantwortlich. Die Geschichte hat uns nachdenklich gemacht. Ich wünsche nur noch eins, dass unsere und ihre Nachkommen die Schrecken des Krieges nicht kennen lernen. Möge die Welt in Frieden und gegenseitigem Verständnis leben. Der Reiche sollte mit dem Armen teilen, der Gesunde dem Kranken helfen. Auf dieser Welt sind wir vor Gott alle gleich. Jeder Mensch hat nur ein Leben. Möge jeder sein Leben so gestalten, dass sich die folgende Generation nicht für ihre Vorfahren schämen müssen.

Die Menschheit soll sich nicht wegen Hautfarbe oder Glaubensbekenntnis entzweien. Wir sind alle Menschen. In uns allen fließt Blut ein und derselben Farbe, in jedes Menschen Brust ist ein liebendes Herz, und in jedem Kopf ist Verstand.

In meiner Familie gibt es Ukrainer, Russen, Polen, Tschechen, Juden und Deutsche. Unsere Kinder leben in Sewastopol, Nikolajew, Shitomir, Stachanow im Bezirk Lugansk, Lemberg und Winniza.

Alle Kinder haben Wohnung und Arbeit. Allerdings sind der Jüngste – Georgij – und seine Frau Irene, eine Deutsche, arbeitslos. Wir haben ihnen im Dorf Rosdolowka eine Datscha gekauft. Im Sommer arbeiten sie auf der Datscha und überleben auf diese Weise. Der Sohn hat einen Universitätsabschluss als Techniker, Irene desgleichen in Technik und Ökonomie, aber Arbeit haben sie in Winniza nicht gefunden.

Wir planen, einen kleinen Laden neben unserem Haus zu bauen, wo sie vielleicht Gemüse usw. verkaufen können und damit eine Arbeitsstelle haben. Die Kinder schreiben uns und telefonieren, und im Sommer kommen sie zu uns zu Besuch. Mit der Frau zusammen bekommen wir eine Rente von 970 Griwen, was ungefähr 200 Dollar sind. Wir können uns also Brot, Milch, Fleisch, Butter, Eier u.a. kaufen. Es geht uns also gut.

Wir haben eine Wohnung 50 qm die sich in einem Einfamilienhaus im Erdgeschoss befindet. Am Haus ist ein Garten mit Obstbäumen und Beeten. Wenn es die Gesundheit erlaubt, dann kann man schon leben. Gott hat mir für meine Leiden eine gute Familie und Langlebigkeit gegeben. Ich bin jetzt 92 Jahre und die Frau ist 82 Jahre. Ich freue mich, dass wir einen guten Präsidenten und eine gute Regierung haben.

Wir hoffen sehr, dass sie auch für unsere Kinder, Enkel und Urenkel Gutes tun. Wir wünschten uns, dass uns die Länder Europas verstehen würden und helfen, uns auf die Beine zu stellen. Unser Volk ist arbeitsliebend, tapfer und weise, und unser Boden ist fruchtbar.

Ich schicke eine Kopie eines Artikels aus einer örtlichen Zeitung , in dem über meine Famielie berichtet wird. Das Interview hat meine Frau – Viktoria Gawrilowna – gegeben, die 39 Jahre als Lehrerin gearbeitet hat.

Bald wird es uns nicht mehr geben, da können sie mit meinem jüngsten Sohn – Georgij – kommunizieren. Schreiben sie bitte an unsere Adresse.

Damit möchte ich den Brief beenden. Bleiben sie gesund und glücklich.

Mit herzlichem Gruß

Der ehemalige Kriegsgefangene Leonid Josifowitsch Statkewich

P.S.: Ich konnte nicht schlafen. Die Gedanken kehren immer wieder in die Vergangenheit zurück. Ihr, die deutsche Jugend, seid nicht Schuld daran dass in Eurem Land der Hitler geboren ist mit seinen verrückten Ideen die ihre Vorfahren verwirrt haben. Vergebt ihnen wie wir vergeben. Möge der Mensch immer ein Mensch bleiben, d.h. möge er eine Familie haben, einen Namen und Vatersnamen aber keine Nummer hinter der sich ein Schicksal und das Leben verbirgt. Ich hatte auch eine Nummer, aber ich habe sie vergessen. Alle Gefangenen haben so eine Nummer gehabt.

Ich bin in ein Lager in der Stadt Nürnberg gekommen, und von dort hat man mich zur Arbeit nach Röthenbach in die Elektrofabrik geschickt welche dem Besitzer Conradi gehörte. Gibt es jetzt noch diese Fabrik und diesen Besitzer? Vor dem Krieg haben in dieser Fabrik auch Sträflinge gearbeitet. Wir wohnten in Baracken welche in Sektionen unterteilt waren. Zu einer Sektion gehörten 30-40 Mann. Wir haben auf zweistöckigen Pritschen geschlafen. Die Arbeit war schwer und wir wurden geschlagen. So kann man sich nur noch die Hölle vorstellen: Teer, Kohlen- und Graphitstaub und das wache Auge des Aufsichtsführenden Grimberg, welcher die geschlagen hat, die aus gesundheitlichen Gründen nicht diese schweren Elektroden heben konnten. Für einen ausgehungerten Menschen der mit Rübensuppe und schlechten Kartoffeln ernährt wurde war das furchtbar.

Einmal ist mir eine schwere Elektrode auf meinen verwundeten Fuß gefallen der in Holzlatschen steckte. Der Holzlatschen ist zersplittert und Splitter steckten in meinem Fuß. Ich kam ins Hospital, der Fuß faulte. Das schon bei Ende des Krieges. Wir wurden befreit. Gott sei Dank bin ich am Leben geblieben. Ich bin schon 92 Jahre und mein Lebensweg geht langsam zu Ende.

Möge der Frieden in der ganzen Welt und die Freundschaft zwischen unseren Völkern erhalten bleiben.

Ich bin sicherlich nicht der einzige, der ihnen schreibt. Sammeln sie diese Brief und vielleicht kann jemand ein Buch herausgeben über Menschenschicksale, dass es die Menschen in Zukunft vor Hitlerismus.

Sicher hat jede deutsche Familie auch einen lieben Menschen verloren. Bleiben sie gesund.

Mit Hochachtung

Ehem. Kriegsgefangene Leonid Josifowitsch Statkewitch

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