Belarus, Minsk
aus dem Jahr 2005
Sehr geehrte Frau Hilde Schramm, Herr Eberhard Radczuweit und Ihr Kollektiv,
vielen Dank für Ihren Brief vom 20.06. 2005, für Ihr Geldgeschenk und für Ihre Erinnerung an die brutalen Kriegstage. Leider weiß ich nicht, was Sie über meine Person wissen. Ich kann mitteilen, dass ich vor kurzem 84 Jahre alt wurde. Ich lebe zu zweit mit meiner Ehefrau. Die Kinder wohnen getrennt. Unsere Renten reichen für die Miete einer 2-Raum-Wohnung und für ein bescheidenes Leben.
Es ist schwer, sich an die schweren Kriegsjahre zu erinnern. Der Krieg begann für mich am 22. Juni 1941 an der Grenze zu Ostpreußen. Ich bin dorthin zusammen mit den anderen Absolventen der Militärschule für Schützen und Maschinengewehrbediener geschickt worden. In einem Kampfstand der Verteidigungslinie sollte ich als Kommandeur eines Maschinengewehrs dienen. Am 22. Juni am Mittag lieferte ein LKW-Fahrer die Geschosse für eine Kanone. Es gab aber keine Freiwilligen, die bereit waren, die Geschosse zu unserem Bunker weiterzutransportieren. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Mir wurden drei Soldaten übergeben. Ich begann die Ausführung des Auftrages. Als wir die Schützgräben verlassen haben, ist es zur einer heftigen Schießerei mit Gewehren, Maschinengewehren und Minenwerfern gekommen. Die Schießerei geschah neben dem Bunker. Zwei Soldaten zogen sich zurück. Bei mir (Leutnant) ist nur ein Soldat geblieben. Wir liefen etwa 200 m bis zum Wald und hielten die Stellung. Ungefähr 20 Minuten später endete die Schießerei. Wir krochen zum LKW. Ich habe die Kisten mit den Geschossen selbst ausgeladen. Dann krochen wir völlig leise zurück. Ungefähr 20 m vom Bunker entfernt habe ich schwarzen Rauch von einem Nebengebäude bemerkt. Ich schickte den Soldaten in den Bunker und kroch in diese Richtung, um die Brandursache zu klären. Ich stellte fest, dass in einem Eimer Harz brannte. Es gab kein Löschmittel. Ich holte Sand und versuchte, das brennende Harz mit beiden Händen zu löschen. Stattdessen wurde der Brand stärker. Der Rauch wurde entsprechend noch stärker. Die dreieckige Rauchspur hat einen neuen Schusswechsel verursacht. Ich rannte zu der Kiste mit Geschossen und lief dann im vollen Tempo zum Kampfstand. Ein paar Meter vor dem zum Bunker gehörten Schutzgraben explodierte eine Mine. Ich bekam eine Schulter- und Oberschenkelverletzung an der rechten Seite. Im Bunker hat mir ein Feldscher einen Verband angelegt und einen Splitter aus dem Arm entfernt. Er empfahl mir, ins Feldspital des Schützenregiments zu gehen. Ich habe das wegen Risikos, noch eine Verletzung zu bekommen, nicht gemacht.
Am 23. Juni am Abend war unser Bunker durch einige Kanonendirekttreffer vollständig kampfunfähig. Man hat uns befohlen, diesen Kampfstand zu verlassen. Während einer Kampfpause begab ich mich ins Feldspital. Das Spital wurde mit Fuhrwerken bis zum Fluss Neman evakuiert. Ich auch. Der Großteil des Spitals war bereits am anderen Ufer des Neman. Mir wurde ein Splitter aus dem Schenkel entfernt. Ein Weitertransport war nicht in Aussicht. Ein Oberleutnant und ich haben die Entscheidung getroffen, das Spital selbstständig zu erreichen. Beim Dorf Wasiliewitschi hat mein Begleiter seine Entscheidung geändert und wollte lieber seine zurückweichende Militäreinheit einholen. Ich bin allein geblieben. Ich versuchte, im Dorf zu übernachten. Man riet mir, im Haus einer Witwe zu übernachten. Es hat sich ergeben, dass im Haus bereits etwa 10 Soldaten schliefen. Mir wurde der Platz auf dem Ofen zugeteilt. Früh am nächsten Morgen ging ich weiter nach Osten. Ich war allein. In der Nähe von einem Dorf hat mich ein Schuss angehalten. Ich dachte, das wären unsere Soldaten. Ich hielt an. Es nährten sich zwei Deutsche. Sie haben mich durchsucht und zwei Granaten beschlagnahmt. Eine Granate haben sie sofort gesprengt. Die zweite Granate ist nicht explodiert. Ich weiß nicht, warum. Ich habe diese Granate im Bunker persönlich gepflegt.
Ich geriet in einen Krankenabschnitt des Durchgangslagers. Das Lager stand auf Sandboden. Es gab gar keine Bauten für die Kriegsgefangenen. In der Nacht war es ziemlich kalt. Man erlaubte uns, Erdlöcher auszugraben. Meine zwei Kameraden und ich gruben ein etwa 1,5 Meter tiefes Loch aus. Im Loch lebten wir zu dritt. Essen erhielten wir dreimal täglich. Die Nahrung war aber so schlecht, dass nach zwei Wochen die Gefangene begannen zu sterben. In einem Monat starb jeder Fünfte in jeder Hundertschaft. Zum ersten Mal habe ich Schokoladengeschmack im Roggenbrot gespürt.
Mitte August kam ich ins Stalag I B [Hohenstein/Ostpreußen]. Meine Schenkelwunde hat noch nicht vernarbt. Im Lager war als ich „Soldat Leskow“ registriert und hatte die Nummer 9909. Aus dem Stalag geriet ich ins Arbeitskommando. Das Kommando bestand aus 50 Personen. Wir gruben einen Entwässerungsgraben. Eine Mehrheit wurde krank und hatte Fieber. Ich und neun Gesunde wurden für ein separates Kommando rekrutiert und für die Erntearbeit ins Dorf Schönwalde [Szczęsne] gebracht. Wir lebten im Häuschen eines Schmieds. Er hat alle Fenster vergittert und feste Türschlösser eingebaut. Zwei Wächter haben uns bewacht. Im Dorf fühlen wir uns deutlich besser. Im Krankenabschnitt des Lagers hatte ich einen mit Wasser halbvollen Eimer kaum tragen können. Im Dorf habe ich bereits eine 50-Kilo-schweren Sack geschleppt. Das satte Leben dauerte bis August 1943. Uns besuchte ein Provokateur aus der sogenannten Russischen Befreiungsarmee[Wlasow-Armee (ROA)]. Die Jungs haben ihn ausgelacht. Er fuhr böse zurück. Es ist danach kaum ein Monat vergangen. Wir wurden ins Bergwerk in der Region Kattowitz überwiesen.
Ich arbeitete in der Nachtschicht. Am Tag gab es den obligatorischen Zählappell. Nachts leistete ich Hilfsarbeiten in der Tiefe. Am zweiten Arbeitsmonat habe ich mich an einem Arzt gewandt. Nach dem Arztbesuch wurde mir erlaubt, über Tage zu arbeiten. Diese Arbeit erfolgte nur zu Tageszeit. Mein Schlaf kam schnell in Ordnung.
Anfang 1945 begann die Evakuierung der Lagerinsassen nach Westen. Zu Fuß gingen wir ohne große Zwischenhalte nach Prag. Flüchtende oder Schwache wurden sofort erschossen. Von Prag wurden wir mit dem Zug nach Westdeutschland gebracht. Das Lager war riesengroß. Anfang April schickte man Gruppen nach Osten. Von 20.000 Häftlinge sind 5.000 geblieben. Ich habe meinem Freund einen Plan dargelegt, wie wir in diesem Lager länger bleiben könnten. Mit seiner Hilfe gelangten wir in der Krankenabteilung, die bis zum Zeitpunkt der Befreiung unberührt war.
Die Amerikaner haben uns erlaubt, eine Militäreinheit der befreiten Kriegsgefangenen zu gründen. In der Krankenabteilung gab es einen Oberst, der diese Gruppe leitete. Ich habe ihn besucht und mich als Leutnant vorgestellt. Der Oberst schlug mir vor, ein Bataillon zu führen. Ich habe dies abgelehnt. Mit der Ernennung zum Kompaniekommandeur war ich jedoch einverstanden. Der Wehrdienst verlief ganz ruhig. Wir haben zuerst unsere Soldaten nach Hause geschickt. Dann haben wir eine neue Einheit aus den verbliebenen Kriegsgefangenen gegründet. Diese Einheit und die Offiziere, darunter ich, kamen Mitte August in die Heimat.
Die Offiziere wurden von den Soldaten getrennt. Ich geriet in eine Sondereinheit bei der Stadt Murom. Dort wurden wir geprüft. Der Briefwechsel mit Verwandten war gestattet. Als erster hat mir mein Onkel aus Saratow geschrieben. Er berichtete, dass mein Vater auf dem besetzten Gebiet gelebt hatte, geflüchtet war und danach in Jaroslawl arbeitete. Nach der Befreiung kehrte er 1945 nach Minsk zurück. Meine Schwester studierte in einer Hochschule in Moskau. Im Dezember habe ich eine Fahrkarte für die Heimfahrt erhalten. Ab sofort war ich der Leutnant außer Dienst. Der Heimweg war schwer. Von Murom nach Moskau musste ich auf dem Trittbrett des Waggons fahren, weil alle Plätze besetzt waren. Erkältet und müde, erreichte ich den Belorussischen Bahnhof in Moskau und schlief in einer Ecke ein. Eine Militärpatrouille hat mich erwischt. Nach meiner Klärung der Situation bekam ich einen Platz im Zug nach Minsk.
Kurz vor Silvester erreichte ich das Vaterhaus. Ich fand eine Arbeitsstelle als Laborant. Im neuen Studienjahr im Herbst 1946 begann ich das Studium an der Minsker medizinischen Hochschule, die ich im Jahre 1951 mit Auszeichnung beendete. Meine Berufskarriere begann in der Stadt Pinsk, wo ich als Arzt für Physiotherapie arbeitete. Als das Gebiet Pinsk aufgelöst wurde, bin ich befristet in einen ländlichen ambulanten Untersuchungspunkt versetzt worden. 1956 begann ich das Aufbaustudium für Chemie. Nach dem Abschluss wurde ich Assistent am Lehrstuhl für Therapie und anschließend nach der Reorganisation des Lehrstuhls Assistent am Lehrstuhl im Institut für Weiterbildung der Ärzte. Meine Arbeit ging erfolgreich weiter auch nach der Berentung. 1987 nahm ich die Stelle eines Untersuchungsarztes in einer Poliklinik an. Meine erste Arbeit war eine halbe Stelle in der Poliklinik des Minsker Gerätebauwerkes. Ich war mit dieser Stelle vollkommen zufrieden. Leider musste ich diese Stelle nach der Reorganisation der Poliklinik verlassen. Seit dem 1. Juli 2005 bin ich der „Fachmann“ auf meinem Grundstück. Es ist sehr angenehm, frische Beere und Salate zu essen.
Meine Gesundheit hat sich inzwischen verschlechtert. Aufgrund der alten Beinverletzung rechts kam es zu einer Gelenkkrankheit. Jetzt benutze ich einen zweiten Gehstock. Ich rechne künftig mit einer kleinen Arbeit nach meiner Qualifikation. Ich will noch weiterleben.
Es ist klar, manchmal ist es kompliziert, sich an bestimmte Einzelheiten des vergangenen Lebens zu erinnern. Wenn Sie Fragen haben, bitte ich sie zu stellen.
Übersetzung aus dem Russischen Dmitri Stratievski
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