Valentina Aleksandrovna V. – Freitagsbrief Nr. 179

Gebiet Cherkassy, Ukraine

Dies ist der Brief einer Frau, die in Ihrem Land geboren wurde, als meine Mutter Maria im Alter von 18 Jahren nach Deutschland deportiert wurde. Ich bin jetzt 75 Jahre alt. Als ich geboren wurde, verbrachte ich die ersten Tage ein Haus in einer Kiste unter dem Bett meiner Mutter. Das Baby, d.h. ich, wurde versteckt. Eine deutsche Frau brachte eine Flasche Milch im Ärmel mit, mit der sie mich fütterten.

Später, als unsere Truppen in Deutschland einmarschierten, nahm der Bauer Franz Bombel meine Mutter mit ihrem  Kind auf seinem Hof auf, er hatte auch Kinder in meinem Alter (so erzählte es mir meine Mutter). Es waren Jungen und Mädchen: Elsa, Christi, Sonni, Rudy, Zone – ich weiß es nicht mehr genau. Elsa war mein Kindermädchen, sie war zu der Zeit 7 – 8 Jahre alt. Meine Mutter und ihre Freundinnen erinnerten sich daran, wie sie Kühe und Milch nach Polen brachten.

Meine Mutter kehrte in die Ukraine zurück, als ich 2,3 Jahre alt war. Sie fuhr “per Anhalter” mit der Bahn, an der Grenze wurde sie nicht überprüft. Sie brachte eine Menge Sachen mit: Ich hatte damals schon einen Kinderwagen, ein Kinderbett und viele Kleidungsstücke, Dinge, die die Dorfkinder nicht hatten. Die Ukraine war damals arm.  Ich hatte ein bisschen Glück – es war wie eine Entschädigung für meine Leiden. Meine Mutter ist nicht mehr da, aber ich fühle mich zu dem Ort hingezogen, “wo mein Nabel begraben ist” – (wie wir sagen). Ich habe versucht hinzufahren.

Im Moment bin ich Leiterin der bezirklichen gesellschaftlichen Organisation “Häftlinge/ Opfer des Nationalsozialismus”, ich habe große Autorität. Ich möchte eine Freundin oder einen Freund in Deutschland haben, das wäre toll! Ich denke, mein Brief wird Sie überraschen und inspirieren, besonders die jüngere Generation. Unser Volk hegt keinen Groll gegen Ihre Krieger, denn es sind die Taten eines einzigen Mannes – Hitlers und seiner Clique. Aber den Menschen wurde viel Böses angetan, vor allem den Verschleppten: Alle Pläne gingen zu Bruch, alles wurde auf den Kopf gestellt. Ich habe meinen Vater gefunden, als ich 50 Jahre alt war, das war der Wille meiner Mutter. Ich suchte ihn selbst, ich schrieb nach Arolsen, nach Podolsk, erhielt aber nirgends eine Antwort, und ich fand ihn nach den Erzählungen meiner Mutter. […]

Zur Zeit bewundere ich die Güte und Aufrichtigkeit der Deutschen, die unsere Opfer bis jetzt entschädigen; vielen Dank an alle, die für unsere Opfer spenden. Es sind nicht mehr viele von ihnen am Leben. Ich wünschte, es gäbe eine Entschädigung für die Kinder und Enkelkinder unserer Opfer.

……

Veröffentlichen Sie zu Hause meine Geschichten, damit die Jugend Ihres Landes und alle Deutschen wissen, was wir ertragen und durchgemacht haben. Schicken Sie mir dann bitte, was Sie schreiben, meine Erzählungen, meine Autobiografie. Ich werde es an meine Zeitung schicken, damit mehr Menschen davon erfahren.

Eine tiefe Verbeugung und Hochachtung gegenüber allen, besonders Gottfried Eberle 31. 3. 2021

Viele, viele Grüße an die Mitglieder Ihres Vereins!

[…]

Meine Mutter, Maria Timofeevna Verbova, wurde am 18. Dezember 1925 in der Ukraine, im Dorf Shulyaki, Bezirk Zhashkovsky (damals Kiewer Gebiet), geboren. Ich wurde 1945 geboren, aber meine Mutter brachte immer die Orte durcheinander: Einmal nannte sie die Stadt Stralsund – irgendwo in Pommern, aber jetzt ist es nicht mehr Pommern. Nach den Akten bin ich auf der Station Matejdorf geboren wurde. Aber meine Mutter war etwas verwirrt, sie hatte bereits Misophremie – das ist eine Art Geisteskrankheit. Mein Vater war Militär-Aufklärer, Jude.

Es war schwer für mich, als meine Mutter mich ins Dorf mitbrachte: Wer konnte schon glauben, dass ich keinen deutschen Vater hatte. Meine Mutter und mein Vater vertrugen sich nicht. Er kehrte an seinen Ort zurück, meine Mutter an ihren. Ich habe eine Menge Kränkungs-„Tabletten“ geschluckt.

Ich habe zwei Hochschulabschlüsse. Ich bin Lehrerin, außerdem spiele ich alle Musikinstrumente. Die letzte Zeit habe ich im Sanatorium “Yunost” als Animateurin gearbeitet. Ich hatte dort ein Akkordeon “Wolfmeister” – ein fünfreihiges, sehr gutes deutsches Akkordeon. Ich bin jetzt 75, ich bin krank und meine Füße schmerzen sehr. Aber man sagt mir, ich hätte weniger tanzen sollen, als ich jung war. In der Schule habe ich Deutsch gelernt, aber das habe ich schon wieder vergessen. Ich erinnere mich ein wenig, einige Wörter und Sätze – wie etwas heißt.

[…]

Noch einmal: Wir sind Ihnen sehr dankbar, dankeschön [auf Deutsch geschrieben],  dass Ihr Programm sehr notwendig und wichtig ist.

Versuchen Sie, jemanden aus der Familie Franz Bombel zu finden. Vielleicht leben noch Elsa, Christy, Rudy und Soni….

Auf Wiedersehen. [auf Deutsch geschrieben]

Mit herzlichen Grüßen und Wünschen,

Walentina Alexandrowna.

 04.06.2021

Übersetzung Karin Ruppelt, Vorbereitung Igor Makarow