Dora Janowna Podemska – Freitagsbrief Nr. 180

Ukraine, Ternopil
2010

Ich, Dora Janowna Podemska, danke Ihnen sehr für die finanzielle Unterstützung für die Überlebenden des Holocaust. Ich danke Gott jeden Tag für Seine große Güte.

Ich wünsche allen Juden, dass sie so etwas nie mehr erleben müssen.

Mit freundlichen Grüßen,

Unterschrift

Meine Biografie

Den Holocaust überleben, das ist ein Wunder Gottes, ein großes Gottesgeschenk. Der Holocaust ist die grauenvollste Seite im Geschichtsbuch des jüdischen Volkes. Während des Holocausts mussten alle Juden Todesängste ausstehen. Ich habe zweimal, 1941 und 1943, solche Todesangst ausstehen müssen.

Nach meinem Vater heiße ich Dora Majerowna Rabinowitsch, mein offizieller Name ist aber Dora Janowna Podemska. Ich wurde in Polen geboren, in Stanislawschtschina. Als der Krieg begann, wurde ich mit meinem Vater und meiner älteren Schwester evakuiert. Auf dem Weg kam mein Vater durch einen Bombenangriff ums Leben, meine Schwester Anja wurde verletzt und wurde mit dem Zug abtransportiert. Ich blieb alleine zurück, ein siebzehnjähriges Mädchen, das kein Russisch sprach, nur Jiddisch und Polnisch, und ich marschierte zu Fuß bis zur Stadt Wosnesensk im Gebiet Nikolajew, wo mich eine jüdische Familie aufnahm.

Meine Eltern hatten mir von Klein auf beigebracht, zu Gott zu beten. Und nur meine Gebete halfen mir, wie durch ein Wunder am Leben zu bleiben. 1941 führten die Nazis mich und viele andere Juden zur Erschießung. Mit Gottes Hilfe fiel ich bei der Erschießung den Bruchteil einer Sekunde vor der Maschinengewehrsalve in die Grube und lag in der Grube zwischen hunderten von Leichen. Nach diesem schrecklichen Erlebnis hielt ich mich lange vor den Menschen versteckt, musste schrecklichen Hunger und Kälte durchleben und befand mich wegen meines jüdischen Aussehens immer in Todesangst.

Im Februar 1942 dachte ich, dass die blutrünstigen Polizai sich beruhigt hätten und wagte es, mich auf der Straße zu zeigen. Gleich wurde ich aber von den Brüdern Birst, die bei der Polizei von Wosnesensk arbeiteten, festgenommen und sollte zum zweiten Mal erschossen werden. Im Gefängnis wurde ich von den Nazis auf jede erdenkliche Weise schikaniert, sie zwangen mich zu schwerster Strafarbeit. Jeden Tag zwölf Stunden lang, barfuß, mit blutigen Füßen, fast ohne Nahrung. Wenn meine Kräfte wegen Hunger und Erschöpfung nachließen, wurde ich von den Nazis brutal verprügelt, bis ich halbtot war.

Da ich Polnisch sprach, behauptete ich, Polin zu sein. Zur Überprüfung brachten die Nazis einen Polen herbei. Gott schickte mir meinen Retter und Schutzengel, Kasimir Podemski, einen polnischen Partisanen aus Warschau. Er bestätigte nicht nur, dass ich Polin sei, sondern rettete mich auch vor dem unausweichlichen Tod. Er steckte mir an meinem Arbeitsplatz heimlich Brot und gekochte Kartoffeln zu. Als er erfuhr, dass ich aus dem Gefängnis fliehen wollte, verbot er es mir, da es zu gefährlich sei. Im September 1943 „entführte“ Kasimir Podemski mich an meinem Arbeitsplatz und brachte mich nachts mit einem Karren ins Gebiet Kirowograd, ins Dorf Dobrowelitschkowka, wo er mich russischen Partisanen übergab. Dann ging er. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Auf dem Weg gab Kasimir mir ein Dokument, aus dem hervorging, dass ich seine Schwester sei (falls mich jemand fragen sollte). In der Nacht erzählte er mir, dass er aus Warschau war und hatte fliehen müssen, um der Verhaftung zu entgehen. Er musste seine Heimat verlassen, weil er das Warschauer Ghetto mit Waffen und Lebensmitteln versorgt hatte.

Mit den russischen Partisanen rückte ich bis Krasnodar vor. Ich hatte nur ein einziges Dokument bei mir, das Papier von Kasimir. Mein Familienname wurde Podemska. Von 1943 an war ich mit den Truppen der Roten Armee in sieben europäischen Ländern, die wir befreiten. Ich habe dafür 16 Auszeichnungen bekommen, und der siebzehnte Orden wurde mir von unserem Präsidenten Leonid Kutschma überreicht. Nach Kriegsende 1945 wurde ich aus dem Armeedienst entlassen und kehrte nach Wosnesensk zurück, an den Ort, an dem ich damals zweimal verhaftet worden war und erschossen werden sollte – ich wollte die Mörder, die Brüder Birst, finden.

Ich arbeitete dann in Wosnesensk in einer Konservenfabrik und heiratete einen Juden. 1946 zogen mein Mann und ich nach Ternopol, wo ich bis heute lebe. 1991 ist mein Mann gestorben.

Nach dem Krieg habe ich versucht, meinen Retter Kasimir Podemski zu finden. Erst nach vielen Jahren des Nachforschens fand ich heraus, dass er am 7.7.1944 in Warschau verhaftet und nach Deutschland ins KZ deportiert worden war. Er war in vier verschiedenen Konzentrationslagern. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde mir vom Jüdischen Rat der Stiftung für ukrainische NS-Opfer mitgeteilt, dass Kasimir Podemski vom Vorsitzenden des Jüdischen Rates I. M. Lewitas der Titel „Gerechter“ zugesprochen worden war.

In Ternopol habe ich seit 1946 ältere Juden ausfindig gemacht und sie zu mir nach Hause eingeladen, damit sie jedes Jahr heimlich das Kaddisch-Gebet für meine Eltern sprechen. In den 70er Jahren wurde ich die erste jüdische Aktivisten in der Stadt, ich versammelte die jüdische Gemeinde bei mir in der Wohnung, wir hielten heimlich den Sabbat ab, begingen die jüdischen Feiertage und ich erzählte ihnen von den jüdischen Traditionen. Die russischen Juden hörten von mir zum ersten Mal in ihrem Leben jüdische Lieder.

1998 wurde eine offizielle jüdische Gemeinde gegründet. Jedes Jahr eröffne ich die jüdischen Feiertage mit dem Gebet in drei Sprachen und mit Musik. Ich bin die einzige Jüdin im Ort, die jeden Freitag die Kerzen anzündet, über denen ich die Gebete spreche. […] Ich habe zweimal in Lwow ein jüdisches Konzert organisiert, was vor zwölf Jahren noch sehr schwierig war. Ich habe damals im Telefonbuch jüdische Namen herausgesucht, die Leute angerufen und zum Konzert eingeladen. Manche antworteten mir mit wildem Schimpfen… eben diese Leute leben heute in Israel. […]

Ich bin in einer gläubigen jüdischen Familie groß geworden. Meine Eltern beteten jeden Tag und das ist mir fürs ganze Leben im Gedächtnis geblieben. […]

Als gläubige Jüdin habe ich außerdem ein gutes Werk getan und im Dorf Pereginsk, in dem ich geboren wurde, den jüdischen Friedhof mit einem Eisenzaun umzäunt. […] Ich fahre oft dorthin und beauftrage Leute mit der Säuberung des Friedhofs und dem Streichen des Zauns. Ich stelle Kerzen auf die Grabtafeln und spreche das Kaddisch. […] Ich habe für die Erhaltung des Friedhofs keine finanzielle Unterstützung erhalten. Wenn ich sterbe, wird der Friedhof verfallen.

Ich bin jetzt eine alte Frau. Am 22.6.2004 wurde ich 80 Jahre alt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Gott segne Sie und gebe Ihnen Gesundheit und Glück.

Aus dem Russischen von Valerie Engler