Valentin St. – Freitagsbrief Nr. 216

Belarus, Gebiet Minsk
Juli 2022

Sehr geehrte Bernhard Blankenhorn und Ragna Vogel!

Der Grund, warum ich meine Erinnerungen mit Ihnen teile, ist Ihr Brief, den mir mein Freund I. A. S. [215. Neuer Freitagsbrief] zeigte, nachdem er eine Beihilfe von 300 Euro erhalten hatte.

Auch ich bin ein Überlebender eines von den Nazis niedergebrannten Dorfes, aber nicht im Gebiet Mogiljow, wie er, sondern im Gebiet Minsk. Wir sind noch nicht an der Reihe, aber ich hoffe und warte.

Ich wurde 1939 im Dorf Zaden‘e im Bezirk Logojsk im Gebiet Minsk geboren und habe wie viele meiner Altersgenossen viel Elend und Leid durch die Faschisten erlebt. Schon zu Beginn des Krieges trafen mich stinkende, rauchende Brandbomben, die eine „Rama“ [Focke-Wulf 189, FW Uhu; Anm. d. Übers.] abwarf, und von denen unsere Hütte in Brand gesetzt werden sollte. Ich beobachtete das Flugzeug aus irgendeinem Grund ohne Angst, aber mit Neugier, durch die angelehnte Tür des Unterstandes, der sich im Garten neben der Hütte befand. Einige Zeit später, in der Nacht, vertrieben die Deutschen eine kleine Gruppe von Partisanen aus unserem Dorf, und wir rannten über das gefrorene Feld in den nächsten Wald. Leuchtspurgeschosse pfiffen hinter uns her, und in unserem Rücken brannte bereits das Dorf, einschließlich unserer Hütte. Die war in erster Linie das Ziel, denn manchmal ruhten sich dort Partisanen nach den Einsätzen aus. Damals gelang uns die Flucht, und fast den ganzen Krieg über versteckten sich meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich in den Wäldern, Sümpfen und abgelegenen Dörfern. All die schlimmen Erlebnisse und Abenteuer sind schwer zu beschreiben.

Etwas besonders Entsetzliches geschah, als wir, mehrere Familien, Anfang Juni 1944 im Morgengrauen kurz vor der Befreiung von den Deutschen im Wald von deutschen Soldaten umzingelt wurden. Damals habe ich sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen. Trotz der Todesangst und der Ungewissheit erinnert sich mein unsicheres Kindheitsgedächtnis an das Bild wie an einen Kriegsfilm: Junge Männer mit Helmen, in schönen grünen Uniformen und mit umgehängten Maschinenpistolen führten uns alle schweigend und ohne Schüsse auf eine frische, sonnige Wiese hinaus, teilten methodisch und ohne besondere Gewalt die verängstigten Menschen auf: in eine Gruppe von Männern und eine andere von Frauen, Kindern und Alten. Und hier, während der Einteilung, geschah etwas Merkwürdiges. Meine Mutter hat es mir erzählt. Mein Cousin (Vasilij Belyj, er war etwa 13-14 Jahre alt) wurde von seiner Mutter zu der Gruppe geschickt, in der sein Vater war, er wollte aber bei seiner Mutter bleiben. Alle dachten, die Männer würden nach Deutschland geschickt und die anderen würden verbrannt oder erschossen werden. Und was für eine Überraschung gab es, als einer der deutschen Soldaten, der älter aussah, Vasilij am Kragen packte, ihm mit dem Knie einen Stoß in den Hintern versetzte und ihn von seinem Batka (Vater) zu seiner Mutter schubste. Nach dem Krieg wurde Wassili ein berühmter Mähdrescherfahrer, der in Borovlianyj in der Nähe von Minsk arbeitete, dank jenem älteren Deutschen, der ihn mit einem Tritt in den Hintern vor dem Tod bewahrt hatte. Vielleicht helfen uns die deutschen Nachfahren dieses Deutschen aus Nächstenliebe. Auch damals gab es unterschiedliche Deutsche.

Nach der Einteilung wurden die Männer irgendwo hingebracht. Ich erinnere mich, dass mein Vater beim Weggehen meiner Mutter zurief: “Katja, kümmere dich um die Kinder, ich laufe weg, ich komme wieder!“ Ja, er kam auch zurück, nur anders als gedacht. Ein Jahr später, etwa im Frühjahr 1945, stürzte ein Pferd während der Aussaat auf dem Feld in der Nähe des Dorfes Zavidnoye, im Gebiet Bezhsova, in eine Grube. Es war ein Massengrab, in dem unter den Erschossenen mein Vater zusammen mit seinem Bruder waren. Insgesamt waren es 15 Personen.

Wir wurden alle in das Dorf Ters‘tyanka in der Gegend von Borisow gebracht und in den Hütten bei den Einwohnern untergebracht. Hier waren die Deutschen die Herren, und wir überlebten bis zur Befreiung.

Dann, bei der Ankunft der Roten Armee, kehrten wir in unser Dorf zurück und sahen die von Unkraut überwucherten Höfe der verbrannten Hütten, aus denen die gemauerten Schornsteine ragten. Am Rande des Dorfes, am nahegelegenen Wald sahen wir mehrere Erdbunker, in die wir uns einquartierten. Mit Lehmböden, feuchten, nassen Wänden, rauchenden Öfen, undichten Türen, leeren Fensteröffnungen und anderen „Annehmlichkeiten“ konnten wir einige Jahre lang leben, bis die Behörden uns halfen, eine Hütte zu bauen.

Auch in der Nachkriegszeit mussten wir mit gefährlichen, wenn auch nicht absolut tödlichen, Härten zurechtkommen. Vor allem Hunger, Armut, Krankheiten. Manchmal waren wir in einem halb ohnmächtigen Zustand, in dem wir gar nichts mehr wollten: nicht essen, nicht trinken und nirgendwo hingehen. Zu essen hatten wir oft nur Gras (Melde), Wegerich und Sumpfpflanzen. Wir aßen “Kavyoriki”, ein Fladenbrot aus gefrorenen Kartoffeln, die wir unter dem Schnee fanden. Brot gab es nur gelegentlich, und erst ab 1947. Es gab keine Kleidung, keine Schuhe. Bis zur 7. Klasse gingen wir bei jedem Schnee barfuß zur Schule, und im Winter trugen wir selbstgemachte Holzschuhe oder Gummistiefel, von denen uns jetzt die geschundenen Füße schmerzen. All dies sind Folgen des Krieges. Das ist allgemein bekannt. Für andere war es noch schlimmer.

Vielen Dank für die Erinnerung in dieser konkreten, realen Form.  Ihre materielle Unterstützung hat die Kraft, uns glauben zu machen, dass das Gute über das Böse siegen wird.

Wenn Sie es für notwendig und möglich halten, etwas aus den Erinnerungen zu veröffentlichen, bin ich einverstanden. Damit die heutige Generation mehr Wissen hat…

Mit Hochachtung Valentin St.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt und Igor Makarov