K. Iwan Fedotowitsch – Freitagsbrief Nr. 217

Lugansk, Ukraine
Juni 2005

Dieser Brief an KONTAKTE-KOHTAKTbI aus dem Jahr 2005 erinnert an die Intention unseres Projektes “Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer”, die von den Auszahlungen der Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” ausgeschlossenen ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen. Immer noch unterstützen wir rund fünfzig Hundertjährige in Armenien, Georgien und der Ukraine.

Sehr geehrte Mitglieder der Gesellschaft „Kontakte“!

Ein herzlicher Dank für Ihre humanitäre finanzielle Hilfe von 300 Euro, die ich im vorigen Jahr erhalten habe. Ich bin auch für Ihren Brief mit den guten Wünschen sehr dankbar. Ich war tief bewegt, als ich erfuhr, dass dieses Geld die einfachen Bewohner Deutschlands, unter anderem auch ehemalige Wehrmachtsoldaten, gespendet hatten.

Sie haben offensichtlich recht, dass Sie sich bemühen, die Schicksale der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Ostarbeitern zu erfahren und möglichst vielen Deutschen, vor allem den Jugendlichen, bekannt zu geben. Es ist angenehm zu wissen, dass sich jemand für unsere Lebensgeschichten interessiert. Ich hatte seit langem vor, eine ausführliche Antwort zu schreiben. Leider hat mein Gesundheitszustand nicht zugelassen, das früher zu machen. Auch heute bin ich nicht in der Lage selbst zu schreiben, deshalb mein Sohn die Schreibarbeit erledigt.

Kurz nach dem Kriegsbeginn wurde ich im Juli 1941 verletzt. Nach der Behandlung im Krankenhaus kehrte ich im September 1941 an die Front zurück. Am 10. Oktober 1941 wurde ich im Kampf um Wjasma erneut verletzt. Diesmal geriet ich nicht ins Krankenhaus, sondern direkt in die deutsche Gefangenschaft. Das Lager für Kriegsgefangenen wurde in aller Eile auf dem Gelände der Sojafabrik organisiert. Viele Kriegsgefangene wurden schwer verletzt, deshalb, vermute ich, war die Bewachung nicht so streng. Ich habe diese Gelegenheit genutzt und flüchtete aus dem Lager. Ich habe die Zivilkleidung bei der hiesigen Bevölkerung beschafft, hatte jedoch keine Papiere. Während meiner Gefangenschaft hat sich die Frontlinie tief nach Osten bewegt. Ich befand mich auf dem besetzten Gebiet. Ich wollte nach Hause zurückkehren. Der Heimweg war lang und sehr gefährlich. Ich ging zu Fuß, von einem Dorf bis zum anderen. Hier haben mir die guten Leute etwas zum Essen gegeben, dort durfte ich übernachten. Gelegentlich half ich im Haushalt. Die ganze Zeit musste ich mich verstecken, um nicht wieder ins Lager zu gelangen. Meine Heimkehr war somit qualvoll und enorm langsam. Einmal wurde das Dorf, wo ich übernachtete, von den Deutschen und Polizisten [Hier: freiwillige einheimische Helfer, Kollaborateure im deutschen Dienst (Übersetzer)] umkreist. Ich wurde zusammen mit den jungen Bewohnern des Dorfes als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Wir fuhren in Güterwaggons vom Gebiet Poltawa über die ganze Ukraine und Polen nach Deutschland. Wir kamen in die Stadt Jagendorf und wurden in einem Zwangsarbeiterlager untergebracht. Dort hielt ich mich vom Februar 1942 bis Frühjahr 1945 auf. Wir lebten in Baracken. Ich arbeitete als Schlosser auf einem Lokomotivenreparaturwerk. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche Lebensbedingungen dort herrschten, deshalb werde ich sie nicht ausführlich beschreiben. Sie schienen uns unerträglich zu sein. Wir haben sie doch ertragen. Wesentlich später, also nach dem Krieg, habe ich erfahren, dass andere Lager noch schlimmer waren. Auf jeden Fall kann man unser Lager nicht als eine „Todesfabrik“ wie zum Beispiel Buchenwald einstufen. Diejenigen, die noch arbeitsfähig waren, wurden nicht getötet. Sie erhielten sogar für die Arbeit eine kleine Vergütung. Im Frühjahr 1945 wurden wir nach Österreich verschleppt, wo ich in einer Bauernfamilie gelebt und gearbeitet habe. Das dauerte aber nicht lange. Kurz danach haben uns die sowjetischen Truppen befreit. Ich wurde erneut in die Armee einberufen. Nach dem Kriegsende wurde ich entlassen. Ich kehrte zurück nach Lugansk, heiratete eine Frau, erzog einen Sohn. Die ganze Zeit lebte ich nicht reich, aber ehrlich. Ich arbeitete auf einem Diesellockbetrieb. Aus eigener Kraft habe ich für meine Familie ein kleines Haus gebaut. Ich habe sogar etwas Geld gespart. Meine Ersparnisse hat aber die Hyperinflation in den 90er Jahren gnadenlos vernichtet [Originalausdruck (Übersetzer)]. Ich habe mich über die Nachricht gefreut, dass die deutsche Regierung die Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiter auszahlen wird. Ich habe einen entsprechenden Antrag bei der Lugansker Gebietsfiliale der Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ gestellt. Obwohl ich über keine Unterlagen verfügte, die meinen Aufenthalt in Deutschland bestätigen, war ich fast sicher, dass solche Unterlagen in den deutschen Archiven zu finden sind. Meine Anfrage ist jedoch sehr lange unbeantwortet geblieben. Ich habe geduldig darauf gewartet. Auf meine Bitte, bei der Beschaffung der Nachweise behilflich zu sein, hat die Stiftung geantwortet, dass die Bearbeitungszeit beendet ist. Auch wenn die Nachweise gefunden worden wären, sollte ich keine Entschädigung erhalten. Ehrlich gesagt, hat mich das Ausbleiben der Antwort aus Deutschland und eine solche Antwort von der Stiftung zuleide getan. Es war natürlich zu schade, kein Geld zu erhalten. Wesentlich schmerzhafter habe ich aber eine Gleichgültigkeit, eine Abgeneigtheit sich mit dem Fall präzise zu beschäftigen, empfunden.

Ihre Hilfe ist völlig unerwartet angekommen. Dank dieser Hilfe habe ich Arzneimittel gekauft. Das ist doch nicht das Wichtigste. Ihre Hilfe war ein Heilmittel für meine Seele. Die Kränkung ist weg. Obwohl die Höhe Ihrer Hilfe etwas niedriger als die meiner Meinung nach zu unrecht nicht gewährte Kompensationsleistung ist, war sie freiwillig, vom vollen Herzen bewilligt.

Ich bin dafür dankbar, dass Sie eine solche Organisation ins Leben gerufen haben, dass Sie den Jugendlichen über den Krieg berichten, dass Sie uns nicht vergessen haben. Ich bedanke mich bei allen, die für mich und für meinen Kameraden gespendet haben. Ich hätte etwas mehr Kontakte zwischen unseren Menschen, zwischen unseren Ländern gewünscht. Ich teile Ihre Meinung: „Frieden gedeiht dort, wo die Menschen über Grenzen hinweg sich verstehen wollen.“

Mit besten Wünschen für alle Deutschen

K. I.F. (Unterschrift)

Notiert von K. A.I. (Unterschrift)

P.S. Ich bitte um Entschuldigung für einige Korrekturen im Brieftext. Ich habe mich bemüht, nach Möglichkeit originalgetreu die Erzählung meines Vaters zu aufzuschreiben. Einige Sätze habe ich jedoch falsch verstanden und musste einige Zeilen nach dem Kontrolllesen des Briefes nachträglich korrigieren.