Tschirkow Wladimir Iwanowitsch – Freitagsbrief Nr. 148

Ukraine, Gebiet Saparoshje

2010

Sehr geehrte Organisatoren der Wohltätigkeitsstiftung „Kontakte-Контакты“,

Ich, Wladimir Iwanowitsch Tschirkow, ehemaliger sowjetischer Soldat, im November 1941 in Gefangenschaft geraten, möchte Sie bitten, es mich wissen zu lassen, wenn sie meinen Brief bekommen haben, in dem ich Ihnen von meinem Leben berichtet habe und von der Geschichte Russlands, wo am 7. November 1917 die Bolschewiken an die Macht gekommen sind. Das war eine Tragödie für das ganze Volk und das ganze Land. Unter Stalin und Lenin haben viele Millionen unschuldiger Menschen ihr Leben verloren.

[…]

Ich bin am 23.6.1941, ganz jung im Alter von 16 Jahren, in den Krieg gezogen. Meine Schulklasse wurde komplett eingezogen und eine Verweigerung war unmöglich. So musste ich all die Gräuel des Krieges und der Gefangenschaft durchleben. Ich konnte nicht verstehen und hätte nie gedacht, wie unfähig die sowjetische Armeeführung war, die unbewaffnete Soldaten in den Kampf schickte – der Kommandeur sagte zu uns: „Wenn dein Kamerad stirbt, dann nimmst du eben sein Gewehr.“ Ein Soldat galt weniger als der Hund, der sich mit uns zusammen versteckt hielt und mitleidig jaulte mit Tränen unterlaufenen Augen. Kilometerlange Kolonnen gefangener sowjetischer Soldaten, die von zwanzig deutschen Soldaten bewacht wurden, die man sofort hätte überwältigen können. Die Soldaten gingen mit gesenkten Köpfen und erwarteten still den Tod.

[…]

Als ich im November 1941 in Gefangenschaft geriet, da wusste ich, dass mich der Tod erwartete, und passte einen günstigen Moment für die Flucht ab. Zwei Wachen gingen am Zaun vorbei, sie rauchten und unterhielten sich, dann gingen sie in verschiedene Richtungen auseinander. Ich trug meinen Mantel und darunter eine zerrissene Jacke. Die Kameraden drückten den Stacheldraht zur Seite, ich warf meinen Mantel hinein und schlüpfte durch die Öffnung auf die Straße. Dann ging ich ruhig vom Zaun fort. Der Posten hatte Lärm vom Stacheldraht gehört, drehte sich um und sah mich an, aber er begriff nicht, was los war, denn vor ihm stand jemand in Zivilkleidung. Er beobachtete mich, während ich mit der Menge weiterging. Ich bin nicht gerannt, und er ging ruhig an mir vorbei, blickte in die Menge und ging weiter. Wenn ich gerannt wäre, dann hätte er mich getötet. Dort waren Kinder, die uns Essbares über den Zaun warfen: Rüben, Kartoffeln, ein Stück Brot.

So bin ich am Leben geblieben. Es gab viele tödliche Vorfälle. Neben uns heulten die Geschütze, Bomben explodierten. Einmal passierte Folgendes: Unsere Kompanie griff an, vor uns die deutsche Abwehr, über den Köpfen sirrten die Granaten, wenn sie in der Nähe einschlugen. Ich ging und blickte zur deutschen Frontlinie hinüber, alles war ruhig, eine Kugel fliegt 330 m in der Sekunde, und zur deutschen Abwehr waren es 300 m. Plötzlich erstrahlte die ganze Abwehr in hellem Licht, man sah das Feuerkommando. Ich fiel hin und blieb liegen, alle neben mir fielen auch zu Boden, manche waren tot, andere verwundet. Ich kroch auf allen Vieren zurück, fand eine Vertiefung im Boden, legte mich hinein und wartete ab, ob die Deutschen angreifen würden – zu meinem Glück griffen sie nicht an.

Im Wehrkommissariat sagte ich, meine Einheit sei 1941 zerschlagen worden und ich nach Hause zurückgekehrt, wie alle, die überlebt hatten. Wir waren bei Rostow von den Deutschen eingekesselt worden. Es war unmöglich, zu den eigenen Truppen durchzukommen. In diesem Jahr gab es einen frühen Winter, am 7. November 1941 hatten wir schon -20 Grad Frost.

Guten Tag, sehr geehrte Mitarbeiter der wohltätigen Organisation „Kontakte-Контакты“, die sich für eine Rehabilitierung der sowjetischen Kriegsgefangenen einsetzt, die gegen ihren Willen in Gefangenschaft geraten sind – sie wurden von der sowjetischen Armeeführung einfach unbewaffnet in den Tod geschickt, an die deutschen Nazitruppen ausgeliefert. In der Gefangenschaft starben sie millionenfach den Leidenstod in Folge von Hunger und Kälte.

Ich, Waldimir Iwanowitsch Tschirkow, bin Augenzeuge ihres qualvollen Todes. Ich selbst habe auch die Gräuel des Todes durchlebt, bin aber am Leben geblieben, weil ich vorher wusste, dass die Gefangenschaft unausweichlich war und mich darauf vorbereitet hatte.

Ich hatte mir Zivilkleidung und Lebensmittel besorgt, hatte in meinem Armeesack Zwieback und Grieß, was ausreichte, dass ich etwa zwei Wochen keinen Hunger leiden musste. Das hat mich vor dem Tod bewahrt. Nachdem wir in Gefangenschaft geraten waren, trieben sie uns in einer Kolonne von mehr als 1000 Personen Richtung Westen, zu essen bekamen wir verschiedene Tierkadaver. Ich aß das nicht. Unter meinem Mantel versteckt trug ich warme Kleidung. Als wir die Station Wolnowacha erreichten, passte ich einen günstigen Moment ab, warf meinen Mantel hin und rannte durch den noch nicht fertigen Stacheldrahtzaun. So konnte ich mich retten.

Sie haben geschrieben, dass für die sowjetischen Kriegsgefangenen ein Mahnmal aufgestellt werden sollte. Ich möchte einen Vorschlag machen, wie es aussehen könnte. Es muss erhöht stehen: auf einem Sockel von etwa drei Meter Höhe steht eine etwa zwei Meter große Skulptur. Zu beiden Seiten des Denkmals stehen Pfähle aus Metall, zwischen denen Stacheldraht gespannt wird. In der Mitte ist eine Öffnung, die der Soldat auseinander biegt, in der rechten Hand hält er eine Feldmütze mit dem Sowjetstern, seine linke Hand ist leer, blutüberströmt. Er trägt eine Soldatenuniform, man sieht darunter sein gestreiftes Hemd, an den Füßen Soldatenstiefel. Auf der Brust und auf dem Rücken hat er zwei Buchstaben in roter Farbe, „SU“. Am Kopf trägt er einen blutigen Verband. Auf dem Sockel steht in Goldlettern das Wort „Aljoscha“. Die Inschrift auf dem Sockel sagt: In ewigem Gedenken an die sowjetischen Soldaten, die in der Nazi-Gefangenschaft gestorben sind. Am Fuße des Denkmals brennt ein Ewiges Licht. Neben dem Mahnmal stehen Vitrinen, in denen Fotos und Filme von den sowjetischen Gefangenen gezeigt werden. […]

Ich wünsche Ihnen allen das Allerbeste,

Wladimir Iwanowitsch Tschirkow

Zeitungsartikel aus dem Jahr 2008

„Als der Krieg begann, ging ich in die neunte Klasse der Mittelschule Nr. 1 in Dneprowsk und hatte gerade meine letzte Prüfung in Physik abgelegt“, erinnert sich Wladimir Iwanowitsch Tschirkow. „Am 32.6.1941 begannen die Wehrkommissariate, militärische Einheiten zusammenzustellen. Bei uns in Kamenka wurde ein Jagdkampfbataillon formiert, dem ich zugeteilt wurde. Wir bekamen Karabiner und die Aufgabe, die staatlichen Einrichtungen wie die Bank und die Post zu bewachen. Außerdem sollten wir den Kampf gegen Spione aufnehmen. Das ging so bis zum 10. August, als die Deutschen fast den Dnjepr erreicht hatten. Da wurden wir in die Armee eingezogen und ich kam zum 742. Schützenregiment in der 164. Schützendivision der 18. Armee.

Am 17.8. nahmen die Besatzer Nikopol ein und versuchten, den Dnjepr zu überqueren. Die Deutschen sprengten den Damm am Dnjepr-Wasserkraftwerk und wir wurden vom Wasser überflutet. Ich weiß noch, dass meine Kameraden und ich uns in der Nacht nur mit Mühe vor den Fluten retten konnten. Die Deutschen rückten schnell vor und wir wichen vor ihnen zurück. Beim Dorf Walki Wasilewskij wehrten wir die Deutschen bis zum 25. September ab. Es war ein ungleicher Kampf… Bald danach wurden wir abberufen, um den Armeestab zu retten, der beim Dorf Popowka stationiert war. Aber der Feind war stärker und unseren Truppen an Zahl und Ausrüstung überlegen. Wir mussten wieder den Rückzug antreten und hatten nun schon keine Waffen oder Verpflegung mehr. Die Kommandoleitung überließ uns uns selbst und jeder versuchte sich vor den Deutschen zu retten wie er konnte. Ich marschierte mit einer Gruppe Kameraden Richtung Osten. Am 14.11. wurden wir beim Dorf Marjewka im Gebiet Rostow von Leuten der Polizai angehalten und an die Deutschen ausgeliefert.“

So geriet Wladimir Iwanowitsch Tschirkow zum ersten Mal in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die Kriegsgefangenen mussten Holz hacken, mit dem die Häuser beheizt wurden, in denen die Besatzer lebten, sie selbst hausten in den Pferdeställen und bekamen Tierkadaver zu essen. Bald darauf wurde eine Gruppe Kriegsgefangener in ein Lager an der Bahnstation Wolnowacha überführt, in dem 1000 Personen untergebracht waren. Dort mussten die Gefangenen Waggons mit Munition entladen. Die Nazis behandelten sie wie Vieh. Die Leichen derer, die nicht durchhielten und starben, wurden in die Panzerabwehrgräben geworfen.

„Am 25.12. feierten die Deutschen katholisches Weihnachten, und aus diesem Grund wurden die Wachen reduziert. Ich nutzte diese Chance und floh mit Hilfe meiner Kameraden aus dem Lager. Ich mischte mich unter die Zivilbevölkerung und suchte nach einer Möglichkeit, nach Kamensk zurückzukehren.“

Nach einem langen Marsch kehrte Wladimir Iwanowitsch Tschirkow Anfang 1942 nach Hause zurück und fand seine Mutter. Am nächsten Tag ging er zur Dorfverwaltung und meldete sich. „Dort fragten sie mich aus, wo ich gewesen sei und was ich gemacht habe. Ich sagte ihnen, dass ich in den Schützengräben gewesen war und danach in der Gefangenschaft. Dass ich in der Armee gewesen war und gekämpft hatte, verschwieg ich ihnen, denn sonst hätte ich mir mein eigenes Todesurteil gefällt: Alle, die das zugegeben hatten, wurden am 20.2.1942 in Nikopol erschossen (heute steht an dieser Stelle ein Mahnmal)… Da ich von irgendetwas leben musste, suchte ich mir Arbeit in der Kolchose. Im Mai 1942 begannen die Deutschen damit, junge Leute zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu deportieren, und ich geriet in eine Gruppe von 50 Personen, in der junge Männer und Frauen waren. Es gab keine Möglichkeit, der erneuten Sklavenarbeit zu entkommen…“

So landete Wladimir Iwanowitsch Tschirkow Anfang Juni 1942 in Deutschland. Nach einem Durchgangslager kam Tschirkow mit einer Gruppe von 300 Personen zur Zwangsarbeit in Duisburg am Rhein. Dort gab es auf dem Gelände eines Metallurgischen Werks ein Lager für Gefangene. Wladimir Tschirkow … wurde einer Brigade zugeteilt, die eine Eisenbahnlinie zum Werk bauen und Waggons entladen musste.

Übersetzung aus dem Russischen: Valerie Engler