Nikolaj Aleksejewitsch Drotik – Freitagsbrief Nr. 102

Der folgende Brief stammt wie jener der vorigen Woche aus den Anfangsjahren unseres Bürger-Engagements für vergessene NS-Opfer aus dem Jahr 2005.

Nikolaj Aleksejewitsch Drotik
Ukraine, Gebiet Donezk, Slawjansk

Sehr geehrte Damen und Herren,
Dr. Gottfried Eberle,
Dr. Hilde Schramm und
Leiter des Projekts Eberhard Radczuweit,

Ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche Ihnen alle Freuden des Lebens und vor allem gute Gesundheit und Frieden. Ich möchte Ihnen meine Dankbarkeit für Ihr Engagement für uns ehemalige Kriegsgefangene äußern. Ich bin sehr durch Ihre Aufmerksamkeit für die ehemaligen Soldaten berührt. Bitte entschuldigen Sie die schlechte Schrift, meine Hand zittert. In meiner Jugend hatte ich eine gute Schrift und jetzt zittern die Hände. Ich bin 85 Jahre alt (geboren am 30. Januar 1921).

Kurz etwas über mich. Mit 18 Jahren habe ich das Technikum beendet – Beruf: Armaturen-Mechaniker. Das heißt, ich habe Reparaturen am Kessel und an allen Maschinen der Züge durchgeführt. Ich habe in der Werkstatt der Station Slawjansk gearbeitet. Im Jahre 1940 wurde ich in die Armee einberufen, habe dort in der Infanterie der Stadt Rossejnyj (Litauen) [Raseinai] im Jahr 1941 an der Grenze gedient, dort hat uns der Krieg erwischt. Unsere Armee wurde in kleine Grüppchen zerschlagen und ich wurde in der Nähe von Rossejnyj am 28. Juni 1941 gefangen genommen. Wir mussten zu Fuß 18 km bis zur Station Widukle marschieren. Dort wurden wir in Waggons geladen und nach Deutschland gebracht. Wir kamen in ein Lager hinter Stacheldraht in der Nähe der Grenze. Kurz danach hat man uns in ein großes Lager in Fallingbostel geschickt [Stalag XIB], dort wurden wir registriert, unsere Fingerabdrücke genommen und ich bekam die Nummer 4209. Aus diesem Lager hat man eine Gruppe von 30 Leuten in ein Arbeitskommando bei Aspel [?] geschickt. Wir arbeiteten im Wald des Dorfes Wense, Gebiet Dorfmark [Kreis Fallingbostel], in einer sehr schönen malerischen Gegend. Obwohl ich ein Kriegsgefangener war, habe ich die Natur, die Ordnung und den Wohlstand sehr bewundert. Ich habe Deutschland lieb gewonnen und als wir von den amerikanischen Alliierten befreit wurden, hätte ich die Möglichkeit gehabt, nicht nach Russland zurückzukehren – wir hatten Angst vor den stalinistischen Repressionen. Als die Frage nach der Hilfe des Roten Kreuzes für uns erhoben wurde, sagte Stalin, dass er keine Kriegsgefangenen hätte – nur Verräter.

Ich habe Deutschland geliebt, aber ich konnte nicht bleiben, weil ich zu Hause meine Frau und meine Tochter hatte. Ich habe mit 19 Jahren, noch vor der Armee geheiratet. In der Waldbrigade habe ich 2 Jahre gearbeitet. Die Bedingungen waren erträglich, ein kleines Lager und ab und zu haben uns die Einwohner von Wense zu sich zum Arbeiten genommen. Wir haben gut gearbeitet und sie haben uns gut ernährt. Zwei Jahre vergingen. Dann kam wieder Fallingbostel, Waggons und man schickte uns in die Gegend von Essen, in den Schacht Carl Funke, zum Arbeitskollektiv R.53. Im Schacht habe ich unter Tage wie ein Spezialist gearbeitet. Dann bekam ich ein Ekzem und wurde in ein Krankenhaus der Stadt Minden gebracht. Dort wurde ich geheilt und man ließ mich in dem Lager als Sanitäter arbeiten.

Am 14. April 1945 haben uns amerikanische Truppen befreit. Ich habe das Filtrationslager durchlaufen und wurde in eine militärische Einheit überwiesen. Die Menschen, die nicht zum Dienst einberufen worden sind, wurden geradewegs nach Sibirien verschickt, zum „Holzschneiden“, bis zum Jahr 1949.

Als ich in der Gefangenschaft war, wurde uns bekannt, dass Stalin seinen eigenen Sohn, der auch von den Deutschen gefangen genommen wurde, nicht gegen Paulus eingetauscht hat.

Ich würde so gerne wieder nach Deutschland kommen, um die vertrauten Orte und Menschen wieder zu sehen.

Bleiben Sie gesund, meine Damen und Herren,

mit Hochachtung

Ihr N. Drotik