Mykola Kyrylowitsch Fen – Freitagsbrief Nr. 101

Dieser Brief erreichte uns zu Beginn unseres Bürger-Engagements im Jahr 2005, Herr Fen war damals 88 Jahre alt.

Mykola Kyrylowitsch Fen

Ukraine,  Gebiet Winniza

Ein Brief von einem ukrainischen Kriegsgefangenen Fen Nikolaj Kirillowitsch.

Diesen Brief richte ich an die Gesellschaft KONTAKTE, an die Deutschen, die so nah die Schicksale der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen empfunden haben.  Ich neige das Haupt vor den Menschen, die mich und Tausende meiner Kameraden nicht vergessen haben. Am 12.05. 2004 habe ich in der Zeitung „Winnytschyna“ einen Artikel über die Entschädigungen für die ehemaligen Kriegsgefangenen gelesen. Ich hatte entsprechende Nachweise gesammelt und habe danach Ihre finanzielle Hilfe erhalten. Dafür bin ich allen Spendern, ehemaligen Soldaten und ihren Familien dankbar. Wegen meines hohen Alters und der Schwäche liege ich im Bett. Ihre moralische und materielle Unterstützung haben meine Gesundheit positiv beeinflusst. Ich finde am wichtigsten, dass ich mich nach allem, was ich überlebt habe, nicht mehr als „vergessener Mann“ fühle. Es ist vielleicht kein Fehler, wenn ich im Namen von meinen Kameraden, Toten und noch Lebenden, spreche. Dort, hinterm Stacheldraht, konnte man keine Gerechtigkeit erwarten. Es gab nur eine Form der Gerechtigkeit, nämlich der Tod: entweder stirbst du im Lager oder flüchtest zu den Landsleuten, die dich später als einen Verräter erschießen werden. Die Menschen starben massenhaft auf den Wegen des Krieges. Die Überlebenden blieben verzweifelt und deprimiert zurück. Unsere Leiden, die Leiden aller Völker während des schrecklichen Krieges 1941-1945 sind bereits ausführlich beschrieben.

Meine spätere Ehefrau Staruschkewitsch war damals ein junges Mädchen. Sie wurde als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Sie arbeitete auf einem Werk in der Stadt Esslingen-Mettingen. Der Werkbesitzer hieß Julius Ortlieb. Jetzt sind wir alt und beziehen Rente. Wir haben keine Kinder. Der Staat kümmert sich um uns, gewährt uns verschiedene Ermäßigungen. Ich bin der deutschen Regierung und den einfachen Bürger Deutschlands für die Hilfe sehr dankbar, die Sie den vom Krieg betroffenen Ukrainer übermitteln.

Der Autor dieses Schreibens kann selbst rein physisch nicht mehr schreiben. Die Schreibarbeiten erledigt sein Neffe. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und einen Fall aus den Kriegsjahre beschrieben. Ich bin Jahrgang 1939. Ich glaube, es war das Jahr 1943. Es war im Winter. Ich befand mich mit meiner Mutter in unserem Bauernhaus. Plötzlich sagte die Mutter, dass die Deutschen zu uns kommen. Ich sah aus dem Fenster, wie die Köpfe vorüber huschten. Die Eingangstür knallte zu. Ich verzog mich auf den Ofen und versteckte mich. Dann blickte ich ängstlich hinaus. Ich sah vier oder fünf Männer. Ich hörte zum ersten Mal im Leben eine unbekannte Sprache. Die Deutschen setzten sich, nahmen geordnet ihr Essen und begannen Mittag. Ich wurde etwas ruhiger und begann ganz offen, die Fremden zu begucken. Die Deutschen bemerkten mich. Ein junger Soldat, der am Rande des Tisches saß, zog aus der Tasche eine Schachtel Zigaretten und begann die Zigaretten auszuschütten. Er stand auf und kam zu mir. Er gab mir diese leere Schachtel. Ich wurde plötzlich wieder ängstlich und drückte mich in die Ecke. Der Soldat erklärte meiner Mutter, dass auf ihn zu Hause zwei Kinder warten. Die Deutschen aßen ihre Lebensmittel bis zu Ende und verließen unser Haus. Die leere Zigarettenschachtel haben meine Mutter und ich als Erinnerungsstück aus der Kriegszeit in einen Bildrahmen gefasst.

Uns Ukrainern ist bekannt, dass viele Deutsche, auch Soldaten, diesen Krieg nicht gewünscht hatten. Wir respektieren die Deutschen, die sich für den Frieden und gegen den Krieg in der ganzen Welt kämpfen.

Beste Gesundheit und viel Glück!

aus dem Ukrainischen: Ludmyla Schnyr

 Original (Übersetzer)