Nadeshda Sch. – Freitagsbrief Nr. 186

Ukraine, Odessa

Erinnerungen.

Ich, Sch. Nadeschda, wurde geboren am 14. November 1942 unter der Adresse: […] Das weiß ich aus den Erzählungen meiner Mutter und meiner Großmutter. Ich wurde im tiefen Keller dieses Hauses geboren. In Odessa waren Deutsche und Rumänen, die auf bestialische Weise die Juden schikanierten, sie trieben sie auf die Straße, samt kleinen Kindern und alten Menschen. Sie führten sie zur Erschießung, vernichteten die Juden auf alle möglichen Arten.

Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, denn er war in den Katakomben, bei den Partisanen, das haben mir wiederum meine Mutter und Großmutter erzählt. Die Nachbarn aus unserem Haus bestätigen ihre Worte. Als ich geboren wurde, kam mein Vater heimlich nach Hause. Er kam zusammen mit anderen Partisanen, sie brachten uns und den anderen Menschen in jenem Keller Nahrungsmittel. Dann kam er lange nicht mehr. Bald erfuhren wir, dass er und die anderen Partisanen getötet worden waren.

Leid, Tränen, unerträgliche Bedingungen herrschten in diesem Keller, der mit Steinen und allem möglichen Gerümpel zugeworfen war, damit man nicht sah, dass  hier Menschen lebten. Die anderen teilten das Essen mit meiner Mutter und riskierten das Leben ihrer Kinder, damit ich durch mein Weinen die Menschen nicht verriet, die in diesem Keller saßen. Während des gesamten Krieges, bis zum April 1944, halfen uns Nachbarn – Russen –, die wussten, dass wir dort unten waren. Sie brachten uns Essen und Kleidung. Wenn nicht die guten Herzen der Nachbarn gewesen wären, wären wir nicht mehr am Leben.

Meine leibliche Großmutter starb, und ich hielt M. Anna Glebowna bis zum Ende ihres Lebens für meine Großmutter. Und sie betrachtete mich als ihre Enkelin, und meine Mutter als ihre Tochter. Als ich schon zur Schule ging, erzählte mir meine Mutter von den Leiden, die wir in den Kriegsjahren durchleben mussten, und besonders unser Volk, die Juden. Ich weine bis zum heutigen Tag, wie sollte ich auch nicht, denn ich wuchs ja ohne Vater auf.

So lebten wir bis zum hellen Tag der Befreiung Odessas. Meine Mutter war sehr krank, bettlägerig, deshalb war es meine nämliche Großmutter M. Anna Glebowna, die mich registrierte und meine Geburtsurkunde entgegennahm.

Ich möchte mich persönlich bei der deutschen Organisation „Kontakty“ bedanken, für ihre Menschlichkeit, für das Mitgefühl, für die Hilfe und Aufmerksamkeit, die sie uns entgegenbringt.

In Hochachtung

Nadeshda Sch.

03.08.2016 Aus dem Russischen von Jennie Seitz